In meinem Roman „Objektiv – Nutze die Zeit, bevor sie dich benutzen“ versucht der Protagonist, Alexander Weinberg, eine sogenannte Empathie-Brille zu entwickeln. Mithilfe dieser Brille sollen Gaffer und Gewalttäter therapiert werden, sodass sie Empathie mit den Opfern empfinden.
Als ich den Roman zu schreiben begann, war ich noch davon überzeugt, dass ich mir all das nur ausgedacht hatte. Wie groß war daher mein Erstaunen, als ich während der Recherchen entdecken musste, dass all das, was ich mir zusammenfantasierte, tatsächlich bereits stattfand. Dies gilt nicht allein für den Traum, eine Empathie-Brille schaffen zu können. Es gilt auch für die weitergehenden Versuche, Menschen mithilfe von VR und AR in Form von Kontaktlinsen, Brain-Computer-Schnittstellen oder über Proteine zu manipulieren. Die folgende Leseliste gibt einen kleinen Einblick in die Schriften und Medien, die ich vorbereitend durchforstete.
Dreißig Jahre ist es her, dass Joseph Weizenbaum und Klaus Haefner ein Streitgespräch führten, das in Buchform vom Piper-Verlag veröffentlicht wurde. In diesem Beitrag, den ich bereits 2019 zum ersten Mal veröffentlichte, stelle ich ihre Positionen einander gegenüber, denn letztlich berühren sie bereits alle Grundfragen, die uns auch heute noch beschäftigen.
In meinem Roman „Objektiv – Nutze die Zeit, bevor s i e dich benutzen“, geht es ums Gaffen und Prügeln, um Kinder und Jugendliche, die zu Tätern werden und sich selbst dabei filmen. Der folgende Auszug stammt aus einer Szene, in der Alexander und Finnya, die Protagonisten, Aufnahmen betrachten, die Jugendliche ins Netz gestellt haben und auf denen zu sehen ist, wie sie ihre Opfer quälen:
„Der Aufbau war immer gleich: Eine Gruppe von Tätern bedrohte ein Kind oder einen Jugendlichen, ein Opfer, das sich nicht wehren konnte. Die Opfer duckten sich weg, versuchten sich vor Schlägen und Tritten zu schützen. […] Und immer gab es diese Aufforderung an das Opfer, die Hände runterzunehmen. ‚Wenn du dich nicht wehrst, ist es schneller vorbei.‘ Es klang fast wie ein gut gemeinter Ratschlag. Dann folgte eine Anweisung der nächsten: Halt den Kopf höher, schlag hierhin, stell dich dorthin mit dem Smartphone, das muss jetzt gut zu sehen sein … Zwischendrin wurde pausiert, ein Mädchen aufgefordert, seine Wunden zu zeigen. Eine andere junge Frau sollte zum Abschluss noch einmal in die Kamera lächeln.
Aber das Wichtigste war: All diese Filme wirkten auf ihn gestellt. Alles nur Fake konnte man denken. […] ‚Nein‘, sagte Alexander, ‚nein, Finnya. Wir sehen genau das, was diese Jugendlichen uns zeigen wollen. Ihren Film. Emotionsfrei, ohne einen Hauch von Bedauern oder Empathie, fast schon komisch.‘“
OBJEKTIV – NUTZE DIE ZEIT, BEVOR S I E DICH BENUTZEN von Sabine Walther
Der Roman basiert auf der Prämisse, dass die Menschheit ihre Fähigkeit zum mitfühlenden Wahrnehmen verliert, weil wir von klein auf darauf trainiert werden, die Welt durch Objektive und Kameras zu betrachten und sie über Bildschirme zu erfassen oder auch nur zu “scannen”. So ein Bildschirm hat einen klaren Nachteil: Er schaut niemals zurück. Er berührt dich nicht.
Die Recherchen für diesen Roman haben viel Zeit in Anspruch genommen. Es ist möglich, dass sich hier oder dort Fehler eingeschlichen haben, was die Technik selbst anbelangt. Aber das halte ich für vernachlässigbar, denn meine Aufgabe als Autorin besteht ja nicht darin, ein technisches Handbuch zu schreiben, sondern die Wirklichkeit, wie ich sie wahrnehme und erlebe, zu spiegeln.
Dieser Tage trifft uns wohl alle ein besonders grausamer Aspekt dieser Wirklichkeit in voller Härte, denn wir müssen uns intensiv mit der Unfähigkeit zur „Empathie“ unter Kindern und Jugendlichen zu befassen. Aus der Perspektive meiner Protagonisten betrachtet bedeutet das auch: Wir Erwachsene müssen begreifen lernen, was es bedeutet, wenn man in einer Welt aufwächst, in der man sein Opfer nicht mehr auf eine Weise sieht, die mit der inneren Wahrnehmung verbunden ist, sondern nur noch äußerlich fixiert, um die „besten“ Szenen in den Kasten zu bekommen.
Dazu las ich heute übrigens einInterview, das dieses Thema zumindest mal streift. Rüdiger Maas, Psychologe und Generationenforscher erklärt darin:
“32 Prozent der unter 15-Jährigen haben schon Extremszenen wie echte Vergewaltigungen, echte Ermordungen oder echte Kriegsszenen konsumiert – oft unter dem Radar der Eltern. […]
Dadurch entsteht eine gewisse Distanzierung. Die Kinder sehen solche Szenen digital, die in der analogen Welt passieren, und können diese gar nicht richtig einordnen.
Es kommt zum sogenannten Bystander-Effekt. Szenen werden von vielen konsumiert, aber niemand tut etwas dagegen. Man kann das entfernt mit Gaffern bei einem Autounfall vergleichen. Das führt dazu, dass wir in vielen Bereichen einen Empathieverlust sehen.”
Rüdiger Maas, Psychologe und Generationenforscher im Interview mit RND
Aber ich bin nach wie vor überzeugt: Es ist nicht allein das „Was“, das darüber entscheidet, wie sich unsere Wahrnehmung verändert, es ist vor allem auch das mitleidlose „Wie“, das sich aufs Gaffen und Fokussieren verengt.
Diese Mitleidlosigkeit äußert sich allerdings auch darin, solche Videos zu teilen, vermeintlich, um sich für die Opfer einzusetzen. Man kann dazu nur eindringlich bitten: Tut das nicht. Mit jedem Teilen vergrößert ihr ihren Schmerz und die Demütigung, die sie erfahren haben. Und den Anreiz für die Täter, auch mal so ein Video aufzunehmen, um „berühmt“ zu werden.
Aus genau diesem Grund habe ich übrigens darauf verzichtet, die Gewalttaten selbst in meinem Roman zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Ich wollte keinen Action-Thriller schreiben, sondern einen gesellschaftskritischen Roman, der eines der wichtigen Themen unserer Zeit aus einer ungewöhnlichen Perspektive beleuchtet.
Mehr über den Roman erfahrt ihr über diesen Link oder durch das Aufrufen der Buchseite im Menü.
Zwar bin ich mal wieder spät dran, denn das satirische „Deutschlehrbuch“ des deutsch-irakischen Schriftstellers Abbas Khider erschien bereits 2019. Doch habe ich mich auch 2023 noch sehr auf die Lektüre dieses Buches gefreut, ja, ich war nach all den Ankündigungen, die ich dazu gelesen hatte, sogar ein wenig aufgeregt, als ich es endlich in der Hand hielt. Doch um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Freude hat nicht lange angehalten. Und vielleicht ist das Buch gerade deshalb empfehlenswert.
In seiner Streitschrift „An die Heuchler“ reagierte Stéphane Charbonnier, damaliger Redaktionsleiter des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo, auf Islamophobie-Vorwürfe. Im folgenden Beitrag möchte ich euch diese Schrift vorstellen, die Charb zwei Tage vor seiner Ermordung im Januar 2015 beendete.
Gibt es eine Zauberformel, um erfolgreiche Schriftstellerin zu werden? In ihrem erstmals 1934 erschienenen Schreibratgeber „Schriftsteller werden“ gibt die Autorin Dorothea Brande eine verblüffende Antwort: Ja, es gibt sie. Und sie lässt sich sogar lehren und erlernen. Damit widerspricht sie so ziemlich allem, was mir aus Anleitungen zum „kreativen Schreiben“ bekannt ist. Ein Grund mehr, sich diesen durchaus ungewöhnlichen Ratgeber anzuschauen.
Ein kleiner Auszug aus meinem Gedichtband. Erschienen 2019 über ePubli, Spiralbindung. Mehr darüber erfahrt ihr hier. Vielleicht auch ein schönes Weihnachtsgeschenk? Ich frag ja nur. 😉
Über den Sinn mythischer Sprechweisen und den Unsinn, sie faktisch widerlegen zu wollen
Alle reden über Verschwörungsmythen, aber natürlich sind es immer die anderen, die sie verbreiten. Doch was ist eigentlich ein Mythos? Schon in den 1950er Jahren befasste sich mit dieser Frage der französische Literaturwissenschaftler Roland Barthes und kam zu dem banal anmutenden Ergebnis, dass der Mythos eine Aussage sei. Eine Aussage allerdings, die sich stets in der Schwebe befindet, die sich weder am sprachlichen (oder bildlichen) Zeichen festmachen lässt, noch im Inhalt aufgeht oder in dem, worauf sie deutet.
Was haben uns Barthes Texte für die heutige Mythenbildung noch zu sagen? Und warum betreffen seine Thesen nicht etwa nur die “Ungebildeten” oder “Verschwörungserzähler”, sondern auch die professionellen Vermittler von Wirklichkeit und Wissenschaft?
Stell dir vor, es ist Krieg und du wirst aus deiner geschützten Umgebung vertrieben. Du findest dich in einem gesellschaftlichen Wandel wieder, in dem nichts mehr ist, was es gestern noch schien. Neue Zünfte und Stände bilden sich heraus, neue Formen der Kommunikation erfassen Sprache, Ökonomie, Wissenserwerb und Wissensvermittlung ebenso wie deine Selbstwahrnehmung und deine persönlichen Beziehungen.