Leseempfehlung: „Ein Mann seiner Klasse“

Ein autobiografischer Roman von Christian Baron

Es brauchte nur wenige Zeilen, schon konnte ich das Buch nicht mehr aus den Händen legen. Aus dem Hinterkopf vernahm ich die üblichen Einwände – die Arbeit, die Steuererklärung, die Einkäufe, die Wäsche … Doch meine Antwort war eindeutig: Muss warten. Morgen ist auch noch ein Tag. Warum das die richtige Entscheidung war, erzähle ich in diesem Beitrag.

»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.«

In „Ein Mann seiner Klasse“ erzählt Christian Baron auf 280 Seiten von seiner Kindheit und Jugend in Kaiserslautern. 1985 geboren, wächst er in Armut auf, erlebt er, wie der Alkohol seinen Vater zerstört, muss er dessen Gewalt erdulden und begreifen, dass er aus Sicht von Lehrern, Mitschülern und Nachbarn in die Kategorie „asozial“ gehört. Die Mutter stirbt früh, der Vater vernachlässigt die Kinder, die schließlich von ihrer Lieblingstante aufgenommen werden. Christian kämpft sich teils mit der Hilfe, teils gegen den Widerstand seiner Familie durch und studiert, wird „etwas Besseres“ und damit zum „Klassenflüchtling“.

Mein erster Leseeindruck: Selten hat mich in den letzten Jahren ein Buch so überrascht und berührt wie dieses. Es fühlte sich passagenweise so an, als wären wir in derselben Gegend und zur selben Zeit großgeworden. Nur dass ich 21 Jahre älter bin als der Autor, keinen prügelnden Vater hatte und niemals in Kaiserslautern war. Was also erzeugte das Gefühl des Wiedererkennens?

Wenn man in einem Milieu aufgewachsen ist, wie Baron es beschreibt, weiß man, wie man Kinosäle zum Schluchzen bringt. Aber man weiß auch, dass das Dramatische, das Ereignishafte nur die halbe Wahrheit der Geschichte wiedergibt. Das Erschreckende an solchen Geschichten ist das Was. Das Berührende ist für mich hier das Wie der Erzählung, die Wiedergabe aus den Augen und der Gefühlswelt eines Kindes, das leidet und sich dennoch nicht für oder gegen seine Familie, seine Herkunft, seine Art, auf das Leben zu schauen und im Leben zu stehen, entscheiden kann und will.

Denn so kaputt einige dieser Menschen, von denen der Autor erzählt, auch sind und agieren, für ihn sind sie Familie und der Ort, an dem sie aufeinanderprallen, ist sein Zuhause. Eines, in dem Geborgenheit und das Gefühl von Nähe und Vertrautheit nur in Ausnahmefällen zugelassen sind, was die Kostbarkeit und die Intensität der Erfahrung noch verstärkt. Was die Erwachsenen tun, scheint aus der Sicht des Kindes absurd, brutal, verkehrt; und doch bleiben es seine „Leute“, wünscht es sich ihre Anerkennung, möchte es, dass sie bei ihm bleiben, „nur anders“.

Der Erzählstil des Autors spiegelt seine journalistische Erfahrung, er schildert die Ereignisse überwiegend in kurzen, stilsicheren Sätzen und Episoden. Der Wechsel erfolgt hier und da ein wenig sprunghaft, erzeugt aber insgesamt viele kleine Spannungsbögen. Da Baron auf eine Einordnung und auf Erklärungen verzichtet, ist der Leser/die Leserin gehalten, sich selbst mit der Motivlage der Personen zu beschäftigen. Das dürfte insbesondere jenen schwerfallen, die in den geschilderten Personen nur das „Asoziale” erkennen können. Es schützt aber zugleich davor, in eine gewisse Sozialromantik zu verfallen, die armen Menschen generell die Fähigkeit zur Moral abspricht und sie zu Opfern erklärt.

Von mir gibt es daher eine klare Leseempfehlung!

Bibliografische Angaben

Baron, Christian: Ein Mann seiner Klasse

Ullstein Verlag 2021

ISBN-10: 3548064671

ISBN-13: 978-3548064673

Christian Barons literarisches Debüt wurde mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und mit dem Literaturpreis Aufstieg durch Bildung der Stiftung Noon-Foundation ausgezeichnet.

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