Der Arten des Sterbens sind viele – Leseprobe

Gestern durfte ich mich nicht nur über mein neues Buch freuen, sondern auch über Zuspruch und Glückwünsche, für die ich mich ganz herzlich bedanken möchte. Für alle, die noch unsicher sind, ob sie das Büchlein kaufen sollen, habe ich im Folgenden eine kleine Leseprobe zusammengestellt. Also schaut gern rein und überlegt dann in Ruhe.

Das Buch ist in 16 Kapitel eingeteilt und umfasst 71 bedruckte Seiten. Jedes Kapitel besteht aus einem Zitat und einer dreiseitigen Geschichte.

Im ersten Kapitel berichtet die Ich-Erzählerin von der Nacht, in der ihr zum ersten Mal eine Verwandte erschien, die selbst bereits verstorben ist. Diese Verwandte schlüpft dann in die Rollen der Vorfahren, von deren Leben sie in kleinen Ausschnitten erzählt.

In Kapitel 2 bis 4 (Leben ohne Sommer) geht es um die Geschichte der Karoline Hoffmann, deren Urgroßeltern im 19. Jahrhundert aus Binzwangen nach Harburg emigrieren mussten, weil in Indonesien ein Vulkan ausgebrochen war. Gibt es einen Zusammenhang zwischen all den Ereignissen oder ist diese Sichtweise zu esoterisch? Das müsst ihr selbst herausfinden.

Kapitel 5 und 6 (Sehnsucht nach ein wenig Lyrik) geben Einblick in das Leben von Wilhelmine und Leberecht. Wilhelmine ist eine Verwandte von Karoline, eine lebensfrohe Frau, die Gedichte liebt; Leberecht ist ein eher verschlossener, unfreundlich wirkender Thüringer, der aufgrund seiner politischen Betätigung unter Beobachtung des Blockwartes (die Geschichte beginnt in der NS-Zeit) steht.

Kapitel 6 und 7 (Etwas Besseres fanden wir nirgendwo) berichtet von zwei jungen Frauen aus Obermeiser (Hessen), die sich auf den Weg nach Bremen machten, um etwas Besseres als den Krieg zu finden, der all ihre männlichen Vorfahren verschlungen und die Frauen allein zurückgelassen hat.

Kapitel 8 (Glück ist, wenn dein Herz für andere schlägt) erzählt von Johann Lorenz, einem Kahnschiffer und der guten Seele der Familie, der zunächst fürchterlich wütend ist, weil sein bester Freund Selbstmord begangen hat. Bis er begreift, welches Vermächtnis der Freund ihm hinterlassen hat.

Kapitel 9 und 10 (Es gab keinen Grund) erzählt davon, wie das Aufkommen der Idee, dass unser aller Werdegang bereits in den Genen (oder Zahlen) festgeschrieben ist, das Schicksal des Protagonisten und seiner Liebsten beeinflusst. Lag es an seiner Furcht oder doch an den Zahlen? Findet es heraus. 😉

Kapitel 11 und 12 (Ich versuchte, an nichts zu denken) handeln von einem jungen Mann, der inmitten der Wirtschaftskrise nach “Kameradschaft” sucht und meint, sie bei SA und SS-Leuten zu finden. Der Krieg macht ihn nicht zum Helden, seine Erlebnisse bringen ihn aber schließlich zum Verstummen.

Weihnachten 1943 wurde das deutsche Schlachtschiff “Scharnhorst” in der Barentsee versenkt. Von geschätzten 1332 Männern überlebten nur 36. In diesem Kapitel (Weihnachten auf der Scharnhorst) wird erzählt, wie einer von ihnen den Untergang erlebte.

In den letzten beiden Kapiteln (Dorthin, wo alles begann) erzählt die Friedhofsgärtnerin Eleonore von ihrem Leben und von ihrer Hoffnung, nach leidvollen Jahren am Ende eine gute Ernte einholen zu können.

Alle Kapitel sind als Ich-Erzählungen, also aus der Perspektive der Verstorbenen erzählt. Der Stil ist aufgrund des vorgegebenen Formats eher knapp gehalten. Ich habe versucht, einen Kompromiss zwischen mündlicher und schriftlicher Erzählweise zu finden, weshalb es grammatisch oder stilistisch nicht immer korrekt zugeht.

Und hier folgen nun endlich ein paar Ausschnitte:

LEBEN OHNE SOMMER

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Als ich Caesar erzählte, wann meine Vorfahren Binzwangen verlassen hatten, zog er mich aufgeregt zu seinem alten Globus und deutete auf einen dunklen Flecken im Indischen Ozean.

„Aber das ist doch viel zu weit weg“, wandte ich ein. Caesar lächelte. „Nein“, sagte er, „nichts ist zu weit weg. Alles hängt mit allem zusammen.“ Er schlug vor, mir ein Buch herauszusuchen, in dem die Zusammenhänge erklärt wurden, doch ich lehnte dankend ab.

„Könnten wir nicht lieber hinreisen und alles selbst anschauen?“, fragte ich bittend. „Irgendwann gewiss“, versprach er. „Aber bedenke bitte: Du bist jetzt eine Hoffmann. Es ist wichtig, dass du dich an den Konversationen bei Tisch beteiligst. Wenn es also keine Bücher sein sollen, dann wenigstens die Tageszeitung“, mahnte er und legte mir das Hamburger Fremdenblatt auf den Tisch.  

Ich seufzte, gab mir aber Mühe die Zeitung aufmerksam durchzublättern. In der Wilhelminenstraße hatte es eine Messerstecherei gegeben, im Hafen hatte jemand die Ungarin Maria Templi mit einem Schlafmittel betäubt. An der Englischen Planke waren einer Händlerin Brillanten im Wert von 30.000 Mark geraubt worden. Ich blickte auf meinen Ehering – ob ich ihn künftig lieber ablegen sollte, wenn ich das Haus verließ?

Auf was für trübe Gedanken einen diese Zeitungen doch bringen, dachte ich, als mein Blick auf die Anzeige einer Weinstube am Bahnhof fiel. Resolut schnitt ich sie aus und legte sie Caesar auf den Schreibtisch. Verpflichtungen hin oder her, der Mensch muss doch auch mal Vergnügen haben!  

Caesar kehrte spät, aber gerade noch rechtzeitig zurück, um mich aus einem düsteren Albtraum zu retten. Ich erinnerte selbst kaum, was ich geträumt hatte – irgendetwas von einem fremden Mann, in den ich große Hoffnungen gesetzt hatte, von einem Vulkan, der Blut spuckte, und von einem Brillanten, den man in die Flammen warf, um das Leben zweier Kinder zu retten.

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SEHNSUCHT NACH EIN WENIG LYRIK

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Kam er abends von der langen Schicht in den Borgward-Werken nach Hause, wärmte ich ihm einen Teller Eintopf auf und schickte die Kinder in ihre Schlafkammer. Leberecht setzte sich stumm zu Tisch und schlürfte – manchmal klang es eher wie ein unterdrücktes Schluchzen – den Teller leer. Statt ihn zu ermahnen, bat ich ihn, mir von den Zwangsarbeitern zu erzählen. Aber er winkte ab.

„Was hast du heute Schönes gelesen?“, fragte er mich stattdessen.

Dann holte ich mein kleines Oktavheft hervor, in dem ich Volkslieder und Gedichte aus Baden-Württemberg sammelte, und las ihm daraus vor. Denn was uns einte, mich, die freundliche Süddeutsche und ihn, den knorrigen Thüringer, war die Sehnsucht nach einer Heimat, die unsere Vorfahren aus Armut hatten verlassen müssen; die Sehnsucht nach Landschaften, in denen die Kinder sich frei bewegen konnten, nach Wärme, Licht und Luft, die ihnen und uns in der engen kleinen Arbeitersiedlung verwehrt blieben.

Was uns einte, war die Sehnsucht nach ein wenig Lyrik, die uns daran erinnerte, dass es wieder bessere Zeiten geben würde. Wenn nicht für uns, dann für unsere Kinder.”

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ETWAS BESSERES FANDEN WIR NIRGENDWO

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Mein Ururgroßvater bezahlte dafür mit seinem Leben im Siebenjährigen Krieg. Mein Urgroßvater kehrte nicht, wie versprochen, als reicher Mann aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zurück. Und auch mein Großvater mütterlicherseits starb auf einem Schlachtfeld in Russland.

Was der Krieg uns Armen nämlich wirklich brachte, waren weder Reichtum noch Freiheit, sondern allenfalls ein wenig Knochenmehl für den Garten hinterm Haus, sofern die Schlachten in der Nähe stattfanden. War der Krieg vorbei, waren auch die Namen unserer Vorfahren schnell vergessen und man überließ uns unserem Schicksal.

Als ich 20 wurde, blickte ich mich daheim um und fragte mich, ob es wohl irgendwo auf der Welt einen anderen Platz für mich geben könnte als die 40 Quadratmeter, auf denen 3 Generationen nach der Arbeit eng zusammenrückten. Als Kind hatte ich es genossen, wenn wir dicht an dicht vor dem kleinen Ofen in der Küche saßen und die Eltern uns Märchen und Sagen erzählten. Insgeheim hatte ich jedoch beschlossen, niemals zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Ich wollte auf keinen Fall in die Situation kommen, allein mit meinen Kindern auf einen Soldaten zu warten, von dem ich nicht wusste, ob er nicht vielleicht etwas Besseres oder den Tod gefunden hatte. Lieber wollte ich selbst einmal in die Welt hinausziehen. Nur wohin?

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GLÜCK IST, WENN DEIN HERZ FÜR ANDERE SCHLÄGT

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War ich glücklich oder unglücklich? Ich war froh, wenn ich am Ende des Monats das Geld für die Miete hatte. Wenn Talke uns was Leckeres kochte. Wenn die Kinder was lernten. Ich war traurig, wenn jemand ins Armenhaus oder ins Asyl musste oder wenn die Schwindsucht ihn packte. Aber was nützte das. Ich versuchte zu helfen, da zu sein, die Familie zusammenzuhalten.

Und doch gab es diesen Moment, in dem ich begriff, was Glück bedeuten könnte. Genau genommen begann das im Februar 1872, als Friedrich sich im Keller erhängte. Eine Woche vor unserer Hochzeit, bei der er Trauzeuge sein sollte. Denn Friedrich, den wir spöttisch oft den „alten Fritz“ nannten, konnte nicht nur die köstlichsten Zigarren rollen, er war auch ein begnadeter Musiker und Redner. Und er war mit seinen 46 Jahren so etwas wie ein väterlicher Freund, auf den ich mich immer verlassen konnte. Sogar seinen einzigen Sohn hatte er nach mir benannt.

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ES GAB KEINEN GRUND

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Ich dachte an den Tag, an dem Mutter ein zweites Mal geheiratet hatte, nach 7 langen Jahren der Trauer wieder glücklich war. Doch es hielt gerade mal ein Jahr an, dann starb sie. Einer Eingebung folgend griff ich zu meinem Notizblock und kritzelte nieder, was mir in den Sinn kam:

Vater (28 Jahre): 2 + 8 = 10

Mutter (37 Jahre) 3+7 = 10

Ich: 2 Jahre + 8 Monate = 10

Ehejahre (2), Trauerjahre (7), Ehejahre (1): 2+7+1=10

Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte, aber ich war verblüfft, dass die Lösung augenscheinlich vor mir lag: Es war die 10, vor der ich mich künftig in Acht nehmen musste.

Als Lina kam, um mich abzuholen, saß ich noch im Dunklen und starrte vor mich hin. Sie öffnete mit einem fröhlichen Krachen die Fensterläden und ließ Licht herein. Lina stammte aus einer Großfamilie, ihre Eltern, Mosche und Rebecka waren gläubige, aber der Aufklärung zugewandte Juden, die ihren Erfolg wie ihren Frohsinn mit allen teilten, die ein wenig Unterstützung benötigten.

Oft hatte Lina mir von dem herrlichen Trubel erzählt, der ihre Kindheit prägte. Und von den finsteren Mienen der städtischen Angestellten, wenn sie versuchten, zu erfassen, wie viele Menschen genau zum Haushalt zählten. Davon, wie ihr Vater sich regelmäßig einen Spaß daraus machte, zu behaupten, er wisse es auch nicht genau, könne aber, wenn es der Statistik diene, gern nachsehen, ob sich noch ein Kind oder eine Ehefrau unter dem Sofa versteckt hielte.

War es ein Fehler, Lina nichts von meinem neu erworbenen Wissen zu erzählen, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung? Ließ mich gerade die Schauspielerei zu einem empfindungslosen Wesen werden, dem jegliches Gespür für die Menschen um ihn herum abhandenkam?

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WEIHNACHTEN AUF DER SCHARNHORST

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Als die ersten Granaten den Turmmasten samt Radarantenne weghauten, wollte ich noch an ein Gewitter glauben. Oder an irgendwas Magnetisches, was es nur hier oben im Norden gibt. Aber wegen der Dunkelheit und der lauernden Stille, die folgten, mussten wir uns eingestehen: Sie hatten uns gefunden.

Das Feuer war schnell gelöscht und gerade unsere „Klosterschüler“, wie wir die halben Kinder nannten, die man uns geschickt hatte, erwiesen sich als erstaunlich diszipliniert. Nur Beys Zickzackkurs machte uns Sorge. Er und Hintze waren ja noch nicht lange an Bord, es fehlte an erfahrenen Leuten und an Vertrauen. Aber er würde das Schiff schon schaukeln, auch ohne Begleitung durch die Zerstörer.

Als es um 16:45 Uhr wieder losging, waren wir vorbereitet, versuchten, uns so gut wie möglich zu verteidigen. Vergeblich. 2000 Granaten – mehr als eine für jeden von uns – jagten in gerade mal 2 Stunden über die Barentssee, begleitet vom Freudengeheul der Torpedos. Wer Glück hatte, war sofort tot. Wir anderen kämpften weiter.

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DORTHIN, WO ALLES BEGANN

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Verrückt wie wir waren, heirateten wir an Silvester 1941. Wir stellten es uns wundervoll vor, dass künftig die ganze Welt unseren Hochzeitstag feiern würde. Doch die Welt feierte nicht, die Welt zerschoss, zerbombte, vergaste. Und auch wir bekamen nun zu spüren, wie es sich anfühlte, Angst vor der Auslöschung zu haben. In den Nächten, die wir in Bunkern verbrachten, die keinen wirklichen Schutz boten. Oder davor hockten, uns panisch in eine Nische drückten, weil wir es nicht mehr rechtzeitig geschafft hatten, hineinzukommen.

Manchmal erwies sich aber gerade das Zuspätkommen als ein Glück, deshalb bat ich Richard, dass wir beim nächsten Fliegeralarm nicht in den Bunker, sondern aufs Land fliehen sollten. Die Vorstellung, von Trümmern erschlagen zu werden oder langsam im Schutt zu ersticken, war grauenvoll. Wenn ich schon sterben sollte, dann wollte ich es draußen, unter offenem Himmel und in seinen Armen.

Als wir es dann geschafft, als wir den Krieg überlebt hatten und Richard mich bat, mit ihm nach Hamburg zu gehen, weil er dort leichter Arbeit finden würde, blieb mir für einen Moment das Herz stehen. Doch ein Blick in seine Augen erinnerte mich an das, was wir unser „magisches Geheimnis“ nannten. Wir kannten einander ja von Ewigkeiten her, nicht erst seit ein paar Jahren. Wir waren nichts ohneeinander, alles füreinander.

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So, ich hoffe, ich konnte euch eine kleine Entscheidungshilfe geben. Falls ihr nun immer noch die ganzen Geschichten lesen wollt, freue ich mich natürlich besonders darüber! “Der Arten des Sterbens sind viele” ist online bei Thalia erhältlich – und natürlich auch an allen anderen Verkaufstellen, online wie offline.

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