Ein Roman von Carry Brachvogel
Ein Ehebruch im gutbürgerlichen Milieu Münchens gegen Ende des 19. Jahrhunderts; eine übersättigte Gesellschaft, die sich ihre eigenen Skandale schafft, um nicht an Langeweile zugrunde zu gehen: Der Stoff, den Carry Brachvogel in ihrem Debütroman „Alltagsmenschen“ verarbeitete, ist es gewiss nicht, der mich dazu bewegt, das Buch als Lektüre zu empfehlen.
Was also begeistert mich an einem Erstlingswerk, über das die Autorin selbst später sagte, dass es „Gott sei Dank verschollen“ sei? Davon erzähle ich in diesem Beitrag.
„Man kann es bedauern, daß die geistvolle Verfasserin sich ein so ödes Thema wählte, aber man wird ihr zugestehen müssen, daß sie ihre naturgemäß platten Alltagsmenschen mit so viel Witz und Geist und Laune vorführt […]“
Quelle: Zeitschrift „Ethische Kultur“, zitiert aus dem Nachwort zu Brachvogels Roman
Vom „Lilienaufdemfelddasein“ und von der Sehnsucht nach dem „Unfaßlich-Wunderbaren“
Carry Brachvogels Roman „Alltagsmenschen“ erschien 1895 im S.-Fischer-Verlag. Brachvogel schildert darin die Geschichte der Elisabeth Mey, Tochter aus höherem Hause, die nach ihrer Eheschließung mit dem Juristen Friedrich Becker ein „Lilienaufdemfelddasein“ führt. Ihr Alltag besteht aus „Toilette, Spazierengehen, ein bischen Lesen, ein bischen Porzellanmalen, Besuche, Theater, Bälle“ [S.9]. Elisabeth, die ein sorgloses Leben an der Seite eines Mannes führt, der sie aufrichtig liebt, wünscht sich in den „Zauber des Brautstandes“ zurück, sehnt sich nach etwas „Unfaßlich-Wunderbarem“, das ihren Alltag durchbricht und sie selbst zu einer besonderen Person erhebt.
Auf einem Ball lernt sie den unverheirateten Legationsrat Max Heßling kennen, der schon bald bei dem Ehepaar ein- und ausgeht und ihr Avancen macht. Brachvogel schildert, wie die beiden sich in eine Liebesgeschichte hineinlügen, die keine ist. Denn Elisabeth versucht der empfundenen Nutz- und Sinnlosigkeit ihres eigenen Daseins zu entkommen, indem sie sich durch eine Affaire interessant macht, an der ihr eigentlich nichts anderes liegt, als dass sie ihr die Flucht in ein gefühliges Schwelgen ermöglicht. Und Max, der sich in seinem Junggesellen-Dasein gut eingerichtet hat, sieht in ihr eher eine Jagdtrophäe, die er, sollte seine Karriere es erforderlich machen, ohne großes Aufsehen und ohne dramatische Trennungsszenen wieder loswird.
Die Annäherung der beiden wird protegiert durch die Münchner „zweite Gesellschaft“, die gleichermaßen Freude an der Kuppelei wie an Klatsch und Tratsch hat. Während man in den Salons und bei Zusammenkünften bereits über das Paar tuschelt, weist Friedrich alle Gerüchte, die ihm zu Ohren kommen, zurück, erweist er sich als vertrauensvoll wie naiv gegenüber Frau und Freund.
Die Liebesgeschichte wird zum Drama, als Elisabeth, die bereits Mutter einer fünfjährigen Tochter ist, ein Kind von Max erwartet; zu einem Zeitpunkt, da sie und Max eigentlich längst auf eine günstige Gelegenheit warten, die Affaire zu beenden.
Friedrich entgehen die Anzeichen für eine Schwangerschaft, aber er begreift nun, dass das Gerede der Leute wahr ist. Er duelliert sich mit Max und straft seine Frau zunächst durch Prügel, dann durch Missachtung. Seiner Tochter zuliebe verzichtet er auf eine Scheidung, doch die Geburt des in der Affaire gezeugten Kindes verhindert, dass die Ehe eine zweite Chance erhält, da Friedrich das Kind ablehnt und Elisabeth sich als Mutter zutiefst gekränkt fühlt.
Scharfsichtig, offen, unsentimental: die Perspektive „weiblichen“ Schreibens
Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich in die Welt und die Charaktere, von denen Brachvogel erzählt, hineinversetzen konnte. Der Roman wird anfangs sehr gerafft und insgesamt aus wechselnder Perspektive erzählt. Zu Beginn ist es vor allem Brachvogels Perspektive, Protagonisten und Gesellschaft werden mehr erklärend beschrieben als geschildert, man hat den Eindruck, dass hier bewusst alles Überflüssige weggelassen werden soll. Doch die Erzählweise wandelt sich und obwohl das wirklich „Sensationelle“, auf das man als Leserin ähnlich wie Elisabeth wartet, ausbleibt, wächst die Spannung, wie sich das Ganze nun weiter entwickeln wird.
Dennoch hätte ich das Buch vielleicht rasch wieder zur Seite gelegt, wäre nicht schon bald deutlich geworden, dass es eine durch und durch weibliche – und daher so ungewöhnliche – Perspektive ist, aus der die Ereignisse geschildert werden. Und zwar eine ebenso scharfsichtige, distanzierte und teilweise satirisch-weibliche Perspektive wie eine, die von klarem psychologischem Gespür und der Offenheit, mit der die Gedanken und Motive der Protagonisten dargelegt werden, durchzogen ist.
Brachvogel beschreibt insbesondere Elisabeth nicht als „Opfer“ eines Frauenjägers oder „der Verhältnisse“, sondern eher als Person, der die Kraft zum Gegenentwurf fehlt. Sie unterwirft ihre Protagonistin auch nicht den sentimentalen Vorstellungen eines männlichen Autors (gespiegelt im künstlerisch angehauchten Max), der ihre Schwärmerei als „Liebe“ deutet, um der Kränkung entgehen zu können, dass er selbst darin nur eine untergeordnete Rolle spielt, als Mann nicht gemeint ist. Denn letztlich geht es Elisabeth nicht um den Geliebten, sondern ausschließlich darum, der Mittelmäßigkeit ihres Daseins zu entkommen, indem sie etwas Besonderes und zur Not auch ein „Martyrium“ erlebt, für das es ihr tatsächlich an Stärke fehlen würde.
Doch am Ende bleibt ihr nichts als eine zerstörte Ehe, in der nicht einmal das kleine Glück zu Hause ist. Denn auch ihr Ehemann beginnt sich nun zu verwandeln, wird vom zärtlichen Bewunderer seiner Frau zum Schläger und zu einem Getriebenen, der die Abende lieber auswärts statt daheim verbringt. Das Schmerzliche daran ist, dass in beiden Figuren zugleich eine Nachdenklichkeit angelegt ist, die mich als Leserin hoffen ließ, dass sie doch noch ihren ganz eigenen Weg finden und gehen würden.
„Alltagsmenschen“ empfehle ich allen, die sich mit der „ehrenwerten“ Gesellschaft um die Wende zum 20. Jahrhundert befassen möchten, wie sie aus Sicht einer klugen und literarisch gebildeten Münchnerin erzählt wird. Und sofern sich eine Kategorie „weibliches Schreiben“ wirklich begründen lässt, findet sich darin aus meiner Sicht ein besonders einprägsames und lesenswertes Beispiel.
Über die Autorin
Carry Brachvogel (Karoline Hellmann) wurde 1864 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Sie durchlief eine höhere Bildung, zeigte sich schon früh begeistert von Literatur in all ihren Varianten und veröffentlichte selbst mehr als 40 Bücher und Schriften in unterschiedlichen Genres.
Mit 23 Jahren heiratete sie Wolfgang Brachvogel, mit dem sie zwei Kinder hatte. Ihr Ehemann starb früh und statt eine „Versorgungsehe“ einzugehen, beschloss sie, als Schriftstellerin tätig zu werden. In München unterhielt sie einen gut besuchten literarischen Salon, engagierte sich in der bürgerlichen Frauenbewegung und gründete gemeinsam mit Emma Haushofer-Merk den ersten Schriftstellerinnen-Verein der bayrischen Landeshauptstadt.[1]
1933 musste sie dann, wie so viele mit ihr, auf die unbarmherzigste Art feststellen, dass auf die „ehrenwerte Gesellschaft“ wenig Verlass ist. Weitaus mehr als das Publikationsverbot, das die Nationalsozialisten ihr erteilten, wird es sie vermutlich getroffen haben, dass die Mitglieder des von ihr selbst gegründeten Schriftstellerinnen-Vereins ihr in „vorauseilendem Gehorsam“ den Vorsitz entzogen[2], bevor der Verein schließlich aufgelöst wurde.
Am 23. Juli 1942 wurde die 78-Jährige nach Theresienstadt deportiert, wo sie wenige Monate später starb.
Bibliografische Angaben
Brachvogel, Carry: Alltagsmenschen. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen. Edition monacensia, Allitera Verlag 2013.
ISBN-13: 978-3-86906-538-0
Preis der Taschenbuchausgabe: € 12,90
[1] Vgl. das Nachwort der Herausgeberin in der angegebenen Edition
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Carry_Brachvogel