Ostern oder die ewige Frage: Wann ist der Mensch tot?

In wenigen Tagen feiert die Christenheit Ostern und damit die Wiederauferstehung eines Totgeglaubten. In „Wie der Tod ins Leben kam“ gehe ich auch auf die Entstehung dieses Glaubens an die Wiederauferstehung ein, die meiner Ansicht nach dazu geführt hat, dass eine wunderbare Begebenheit zu einem Wunder hochstilisiert wurde. Mit der Folge, dass gerade die „Botschaft“ Jesu in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Denn die Hoffnung derer, die an die Wiederauferstehung glauben, richtet sich letztlich auf einen jenseitigen Gott, statt auf Menschen, die jetzt und hier dessen Wirkmacht bewahrheiten.

Schmähe ich dadurch den christlichen Glauben? Verbünde ich mich mit jenen, die darin nur etwas Lächerliches sehen wollen? Das liegt nicht in meiner Absicht. Nicht der Glaube wird geschwächt, wenn man die Ereignisse anders einordnet, sondern die Macht jener, die die Deutungshoheit darüber an sich gerissen haben. Deshalb gebe ich im Folgenden einen Auszug aus dem dritten Kapitel wieder, das vom Sterben und vom Tod in der christlichen Literatur des frühen Mittelalters handelt. Und ich wünsche euch allen frohe und gesegnete Ostern!

Die Auferstehung als Überwindung der Todeserwartung

Gregor von Tours erzählt von Menschen, die den Tod schon als vollendet betrachten, bevor er eingetreten ist. Für diese kommt die Heilung der Totgesagten einem Wunder gleich. Die Matrix für solche Erzählungen findet sich im Neuen Testament, nämlich in jenen Passagen, die von vermeintlichen Wunderheilungen bereits Verstorbener durch Jesus berichten. Erneut ist es aber nicht die Erzählung selbst, die von der Auferweckung der Toten spricht, sondern es ist der Leser, der diese Deutung in die Geschichte hineininterpretiert. Besonders klar tritt dies in der Erzählung von Jairus‘ Tochter hervor:

Da er noch redete, kam einer vom Gesinde des Obersten der Synagoge und sprach zu ihm: Deine Tochter ist gestorben; bemühe den Meister nicht […] Sie weinten aber alle und klagten um sie. Er aber sprach: Weinet nicht! Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft. Und sie verlachten ihn, denn sie wußten wohl, daß sie gestorben war. Er aber nahm sie bei der Hand und rief und sprach: Kind, stehe auf! Und ihr Geist kam wieder, und sie stand alsbald auf.“[4]

Immer wieder begegnet dieser Jesus Menschen, die zwischen Leben und Tod so wenig unterscheiden können wie zwischen körperlicher und mentaler Erkrankung; die auf einen Erlöser warten, statt sich selbst für die Wirkmacht Gottes bereit zu machen. Sogar seinen Jüngern, denen er mit der Heilung des Lazarus eine Lektion erteilen wollte, fehlt es an der Kraft zur „discretio“, zur Unterscheidung. Und nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als in der Erzählung von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu selbst.

Denn alle, die seiner Kreuzigung beigewohnt hatten, waren überzeugt, dass Jesus sie nicht überleben würde. Alle, bis auf Josef von Arimathia, der den vermeintlichen Leichnam von den Römern erbat, nachdem dieser erst ein paar Stunden und nicht, wie sonst üblich, drei Tage am Kreuz gehangen hatte. Der Leichnam wird in eine Grabeshöhle gelegt, aus der er schließlich verschwindet. Als die Frauen nach ihm suchen, treffen sie Lukas zufolge zwei Männer, die sie fragen:

Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“

In der Vulgata[5] ist an dieser Stelle nicht von resurrectio, also von einer Wiederauferstehung die Rede, sondern es heißt surrexit, zu Deutsch: Er ist aufgestanden, aufgebrochen. Dass aber Jesus noch zu den Lebendigen gehören soll, mögen die Frauen so wenig glauben wie die Jünger, die seinen Tod bereits akzeptiert haben:

Da sie aber davon redeten, trat er selbst, Jesus, mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch! Sie erschraken aber und fürchteten sich, meinten, sie sähen einen Geist.

Jesus versucht, ihnen zu beweisen, dass er kein Geist, sondern ein verletzlicher und verwundeter Sterblicher ist. Er zeigt ihnen seine Wunden und weil sie dennoch nicht zu glauben vermögen, dass er lebt, bittet er sie um etwas zu essen und „er nahm’s und aß vor ihnen“.[6] Da endlich begreifen sie, dass er kein Geist ist, und er legt ihnen zum letzten Mal die Schrift aus, bevor er für immer fortgeht.

Ist Jesus auferstanden oder wiederauferstanden? In der „Urkirche“ wurde lange darüber gestritten und auch heute bestehen innerhalb der Forschung Zweifel, dass Jesus die Kreuzigung nicht überlebte.[7] Letztlich war diese Frage für die Urchristen aber vielleicht viel weniger bedeutsam als der Umstand, dass der Glaube über die Todeserwartung gesiegt hatte. Nur für die Zweifler, die wie Paulus zuvor vehemente Gegner der christlichen Sekte gewesen waren, hing alles davon ab, in dieser Frage Recht zu behalten.

Der Auftrag des Visionärs: durch das Erzählen Gutes bewirken

Wo beginnt und wo endet das Sterben? Wann ist der Mensch tot? Gregor von Tours bietet uns ebenso wenig eine verlässliche Definition wie die Evangelien. Die Erzählungen fordern zum Zweifeln auf und zum genauen Hinschauen, in einer Weise, die sich nicht auf das vermeintlich Offensichtliche verlässt, sondern die Ereignisse im göttlichen Licht, also aus einer radikal anderen Perspektive, betrachtet.

Für den zeitgenössischen Leser mag dies wunderlich erscheinen, da er gewohnt ist, den christlichen Glauben, insbesondere des Mittelalters, als „wissensfeindlich“ zu interpretieren und generell Glauben und Wissen als Polaritäten zu erfassen. Doch grenzt Gregor sich nicht gegen das Wissen seiner Zeit, sondern gegen philosophische Spekulationen und gegen Fiktionen ab.

Dass es möglich ist, den konkreten Tod zu überleben oder aus dem Jenseits zurückzukehren, darauf findet sich dagegen in den Wundergeschichten kein Hinweis. Wohl aber auf Fehldeutungen und falsche Vorannahmen, die von den Aposteln durch ihr Handeln am Menschen widerlegt werden.

Menschen, die Visionen erleben, in denen sie dem göttlichen Licht oder Verstorbenen begegnen, befinden sich in diesen Schilderungen ebenfalls nicht in Todesnähe, sondern erfahren Traumgesichte, eine Art Trance oder einen komatösen Zustand. Die Erfahrung der Außerleiblichkeit ähnelt nicht dem Sterben, sie stellt einen Teilprozess der Heilung dar, in dessen Verlauf die Betroffenen „zum Äußersten“ gelangen, niemals aber über die imaginäre Grenze, die Leben und Tod voneinander scheidet, hinaus.

Krankheit und die Überwindung vermeintlicher Todesnähe können in diesem Zusammenhang jedoch als Zeichen der Auserwähltheit gedeutet werden, da sie darauf verweisen, dass göttliche Wirkmacht Schlimmeres verhindert hat. Als Beispiel sei die Geschichte von Nicetius[8] angeführt, dem eines Tages eine Pustel im Gesicht wuchs, die sich ständig vergrößerte, sich schließlich entzündete und zu einer schweren Erkrankung führte.

Und während der Junge zwei Tage mit geschlossenen Augen auf der Liege lag, blieb die klagende Mutter ohne ein tröstendes Wort; doch noch zwischen Furcht und Hoffnung schwankend, bereitete die Erzeugerin selbst alles notwendige für dessen Beerdigung vor, als er am zweiten Tag, gegen Abend die Augen öffnete und sagte: ‚Wohin geht meine Mutter!‘ Diese kehrte sofort zurück und sagte: ‚Siehe, da bin ich, was willst du, Sohn!‘ und jener: ‚Fürchte dich nicht, Mutter, der selige Martin hat nämlich das Kreuz über mir gemacht und mir befohlen, dass ich mich unversehrt erhebe.‘“[9]

Gregor erzählt eine Episode aus dem Leben des späteren Bischofs von Trier, den er auch in seiner „Geschichte der Franken“ anerkennend erwähnt. Und auch hier wird erneut deutlich, dass die Geschichte nicht von einer Nahtoderfahrung erzählt, sondern von der Überlegenheit des Glaubens über die Erwartung.

Denn obwohl Nicetius‘ Mutter bereits während ihrer Schwangerschaft ahnte, dass das Kind, dass sie in ihrem Leib trug, einmal Bischof werden würde, schwankt sie im entscheidenden Moment zwischen Hoffnung und Furcht, sodass sie es bereits für gewiss hält, dass ihr Sohn sterben wird. Anders ausgedrückt: Ihre Hellsichtigkeit versagt in genau dem Moment, da die furchtsame Erwartung über ihren Glauben siegt.

Doch Nicetius, der vom heiligen Martin gesegnet wurde, kommt wieder zu Kräften und trägt als Zeichen seiner Auserwähltheit künftig eine Narbe, die das Geschehen bezeugt.

Die Geschichte der mittelalterlichen Visionsliteratur beginnt somit nicht mit Nahtoderfahrungen oder mit Schilderungen der Wiederauferstehung von den Toten, sondern mit dem Schauen, Aufmerken, Hinhorchen, Erzählen, Vertrauen und der Abwendung von Totenkult und einem Verwertungsdenken, das den Sterbenden bereits zu den Toten zählt.

Der Auftrag des Visionärs dieser frühen Jahrhunderte entspricht dem: Er soll erzählen, was mit ihm geschah, und seine Lebensweise daran ausrichten. Der Visionär soll sich an das erinnern, was er gehört und gesehen hat, und er soll zum Nutzen der Lebenden daraus gute und wohltätige Handlungen ableiten. Nicht anders verhält es sich, wenn ein Eremit später eine Fegefeuer-Vision hat und von einem Engel aufgefordert wird: „Geh und bedenke sorgfältig, wie du von nun an leben musst.“[10]

Erst mit dem 7. Jahrhundert entwickelt sich dann allmählich eine Jenseitsliteratur, die das Missionieren zum eigentlichen Auftrag des Visionärs erklärt, die Erfahrung also im Sinne einer christlichen Didaktik nutzbar machen will und sie damit selbst in den Rang einer dichterischen oder philosophischen Fiktion erhebt, von der Gregor sich deutlich abzugrenzen versuchte.

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Quellenangaben


[4] Lukas 8, 49ff

[5] Als „Vulgata“ bezeichnet man die Bearbeitung der in lateinischer Sprache verfassten Evangelien im 4. Jahrhundert.

[6] Lukas 24, 36f

[7] Vgl.: Fried, Johannes: Kein Tod auf Golgatha.

[8] Nicetius (ca. 513-567) war Bischof von Trier.

[9] Libri miraculorum, Band III

[10] C. Zaleski: Nahtoderlebnisse und Jenseitsvisionen vom Mittelalter

bis zur Gegenwart

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