Von der Verschriftlichung der Welt zu ihrer Codierung

Literalisierung verstehen, um Digitalisierung zu begreifen

Nicht die Technik wird über unser Leben entscheiden – was sind schon ein Smartphone oder eine künstliche Intelligenz, die keiner benutzt? –, entscheidend ist die Frage der Kultur.“

Richard David Precht 

Automatisierung, Roboterisierung, künstliche Intelligenz, Datenschutz, autonomes Fahren, Unzufriedenheit mit dem Breitbandausbau – das sind die Themen, die zumeist diskutiert werden, wenn es um Digitalisierung geht. Wir alle wissen, dass wir uns in einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch befinden. Aber was verstehen wir davon, wie die „digitale Transformation“ uns persönlich verändert und noch verändern wird?

In diesem Beitrag möchte ich mich nicht mit den vieldiskutierten Themen befassen. Stattdessen nehme ich die Digitalisierung persönlich. Meine Frage ist: Wie wird sich die technische Revolution auf jeden Einzelnen von uns auswirken? Wie verändert sie ganz konkret die Art, wie wir sehen und hören, denken und fühlen, uns selbst und andere wahrnehmen? Wie wirkt sie sich auf unsere Art, die Welt zu beschreiben und uns selbst darin zu verorten aus? Und nützt es wirklich etwas, den Computer auszuschalten, die Social Media zu meiden und das Smartphone aus der Hand zu legen, um sich diesem Wandel zu entziehen – so man dies denn möchte?

Ich nähere mich diesen Fragen, indem ich den Prozess der vom Buchdruck ausgelösten Laienliteralisierung beschreibe, der eine gesellschaftliche Transformation in Bewegung setzte, die dem, was wir heute erleben, verblüffend ähnelt.

Einen Standpunkt finden: die Erforschung von Oralität und Literalisierung

(Anmerkung vorweg: Literalisierung beschreibt den Prozess des Erwerbs der Techniken von Lesen und Schreiben durch “Laien” bzw deren Unterweisung. Literarisierung bezieht sich auf den künstlerischen Schaffensprozess.)

Wer sich im Strudel der Ereignisse befindet, geht darin unter. Es gilt zunächst, festen Boden, einen Standpunkt zu finden, von dem aus sich diese Ereignisse distanziert betrachten lassen. Mein Standpunkt führt mich viele Jahrhunderte zurück, in eine Epoche, die von einer ähnlichen tiefgreifenden Veränderung infolge einer technischen Revolution geprägt war: in die Zeit nach der Erfindung der Druckerpresse.

Besonders im angelsächsischen Raum hat man dieser Epoche viel Aufmerksamkeit geschenkt. Beschrieben wurde sie als Übergang von der „Oralität“ zur „Literalität“. Jack Goody, Walter Ong, Marshall McLuhan, A.R. Lurija sind nur einige der berühmten Namen, auf die man in diesem Forschungsbereich trifft. „Oralität“ bezeichnet darin eine Gesellschaftsform, in der Wissen vor allem mündlich weitergegeben wird. „Literalität“ bezeichnet eine Gesellschaftsform, in der dies über die Schrift erfolgt.

All diese Forscher sind der Schrift und dem, was sie an kulturellen Leistungen ermöglichte, zutiefst verbunden. Man kann ihnen also nicht den Vorwurf machen, dass sie in irgendeine sentimentalisierte Urgesellschaft zurückkehren wollten. Und dennoch haben sie auch die Problematik dieses Überganges, den gesellschaftlichen Umsturz, die Veränderungen fürs Individuum klar erfasst und beschrieben und gezeigt, wie die Erfindung der Druckerpresse sich auf den Umsturz der Gesellschaft und auf den Einzelnen auswirkte.  Zu diesen Auswirkungen gehörten beispielsweise

  • das Gefühl der Entwurzelung,
  • Veränderungen in der sinnlichen Wahrnehmung und des Zeitempfindens,
  • die Abhängigkeit von neuen Formen der Unterweisung,
  • eine veränderte Selbst- und Fremdwahrnehmung,
  • das Gefühl der Überlegenheit gegenüber „primitiven“, nicht schriftgebundenen Gesellschaften oder ungebildeten Menschen,
  • der Wunsch nach Vernichtung jener, die dem eigenen neuen Weltbild im Weg standen,
  • eine Gelehrsamkeit, die sich in der Anhäufung von Wissen erschöpfte, beziehungsweise Wissen als „Macht“ verstand.

Ausgehend von verschiedenen Studien werde ich versuchen, Aspekte des Wandels darzustellen. Ich blicke dabei auf die Gegenwart, werte das Dargestellte aber nicht explizit aus.  Die Parallelen zur Digitalisierung sind klar und offensichtlich. Welche Schlüsse man daraus zieht, wird im Wesentlichen davon abhängen, ob man der Digitalisierung eher skeptisch oder eher euphorisch gegenübersteht.

Anders als R.D. Precht bin ich der Auffassung, dass eine technische Revolution jeden verändert, der sich in ihrem Wirkkreis befindet – unabhängig davon, ob er selbst die Technologien verwendet oder nicht. Es gibt keine Kultur ohne Technik und keine Technik, die nicht unsere Kultur, einschließlich unseres Denkens, Handelns und Fühlens bestimmt.

Hans Blumenberg hat ausführlich geschildert, wie die „Lesbarkeit der Welt“ uns mit zahlreichen Metaphern versorgte, die uns halfen, die Welt und uns selbst zu verstehen. Innerhalb dieser Metaphorik wird auch der illiterate Laie zum „Leser des Weltenbuchs“ und kommt als “leere Seite” zur Welt, die beschrieben werden muss. Und nicht anders wird es sich mit der Decodierung der Welt verhalten, wenn wir unser Hirn als Festplatte und den Menschen als mobiles Endgerät betrachten, auf dessen System sich beliebig Software installieren oder gar mit KI vernetzen lässt.

Denn, wie Marshall McLuhan es einst so treffend zusammenfasste: Das Medium überbringt nicht nur die Botschaft. Es ist die Botschaft. Und wenn es sich um eine erfolgreiche Technologie handelt, dann formt uns der Umgang damit so lange und so sehr, dass wir den Eindruck haben, ohne sie niemals mehr leben zu können. So, wie es einst die Druckerpresse tat, die eine längst vorhandene Kulturtechnik in ein Massenphänomen verwandelte und die Verschriftlichung der Welt einleitete.

Von der oralen zur schriftgebundenen Überlieferung: die Vorstufe

Der Übergang von der mündlichen zur schriftgebundenen Kultur erfolgte nicht im Hauruckverfahren, sondern vollzog sich über viele Jahrhunderte. Schon ein Jahrtausend bevor es möglich wurde, Bücher in Druck zu geben und damit als Massenware zu verbreiten, beherrschten viele Menschen das Lesen und Schreiben. Und schon im alten Griechenland wurde darum gestritten, ob das Schreiben als eine neue Form des Erinnerns letztlich zu einem Auslöschen von Wissen und Gelehrsamkeit führe.  

Milman Parry zufolge vollzog sich mit dem ersten Übergang von der mündlichen Erzählkunst zur schriftgebundenen Form ein „epistemologischer Bruch“. Nicht allein die Erzählweise und die Gedächtniskunst veränderten sich, auch die Vorstellung davon, dass Worte und Wissen immer auf der Flucht sind, sich nirgendwo speichern oder ablagern lassen. Lediglich im Sprechen werden sie für Menschen, die in einer mündlichen Tradition aufwachsen, lebendig.

Wesentlich ist dabei, dass der Redner oder Dichter in der mündlichen Tradition eine formale Sprechweise erlernt, wie er Wissen und Tradition zum Klingen bringt. Dazu gehören Verse und Reime, Rhythmen und Betonungen. Nicht aber die Vorstellung, dass das Tradierte sich ewig gleich bleiben müsse.

Die Schrift als Mnemotechnik veränderte diese Vorstellung. Für den Analphabeten, der durchaus ein Gelehrter sein kann, ist das Wort in erster Linie Klang, ein flüchtiger Klang. Für den alphabetisierten Menschen ist das Wort ein Körper, der sich visualisieren und speichern lässt.

Das in Schriftform festgehaltene Wissen muss nicht beständig aktualisiert werden, um es zu erhalten, es kann aus dem Regal hervorgeholt und nachgelesen werden. Die Schrift birgt damit die Möglichkeit, Wissen anzuhäufen und zu vermehren. Zugleich fügt sie dem Prozess des Wissenserwerbs aber auch etwas Starres hinzu. Sie ersetzt die Technik des Einprägens und Aktualisierens durch das Konservieren und Tradiieren.

Illiterate und literalisierte Menschen leben in unterschiedlichen mentalen Räumen

Milman Parry erfasste den Übergang von der mündlichen Erzählkultur zur schriftlichen in der antiken griechischen Erzählkunst und gab damit einen wichtigen Anstoß für die Erforschung von Oralität und Literalität. Einer der Wissenschaftler, die diesem Thema schon bald folgten, war der Psychologe Aleksandr Romanovich Lurija.

Lurija allerdings reiste nicht ins alte Griechenland, er bereiste mit einem Team abgelegene Gebiete der früheren Sowjetunion, um Menschen ausfindig zu machen, die weder mit der Schrift noch mit der Buchkultur in Kontakt gekommen waren, also sogenannte „illiterate“ Menschen. Ziel war es, herauszufinden, ob und wie sich die „mentalen Räume“ dieser Menschen von jenen, die in und mit der Schriftkultur aufgewachsen und vertraut sind, unterscheiden.

Das illiterate Denken: konkret, situationsbezogen, indikativ

Lurija stellte (u.a.) fest, dass das Denken illiterater Personen konkret und situationsgebunden ist. Es ist ihnen nicht möglich, davon zu abstrahieren, da es nicht von Begriffen, sondern von sensomotorischen und visuellen Eindrücken gespeist wird. Schon der Konjunktiv ist solchen Menschen suspekt, sie verstehen nicht, was eine Möglichkeitsform ist, weil sie ganz und gar in der Wirklichkeit aufgehen. Der illiterate Mensch erwirbt Wissen, um in der Welt zu handeln.

Das literalisierte Denken: abstrakt, klassifizierend, metaphorisch

Der verschriftete, literalisierte Mensch dagegen neigt dazu, seine Eindrücke und Wahrnehmungen begrifflich zu abstrahieren und einem Denksystem hinzuzufügen, das auf Klassifizierung und Kategorisierung beruht. Er sucht nicht den Kontext oder Sinn in seinem Handeln und Weltverstehen, sondern das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Die Wirklichkeit liefert ihm Metaphern, mit denen er sich selbst beschreiben kann. Der literalisierte Mensch erwirbt Wissen, um die Welt zu behandeln.

Die Welt interpretieren heißt von der Welt zu abstrahieren

Beide Personen leben Lurija zufolge in völlig verschiedenen mentalen Räumen, die einander ausschließen. Dem illiteraten Menschen ist die abstrakte Denkweise fremd, der literalisierte Mensch hält den Illiteraten für primitiv und unterlegen, da er nie gelernt hat, die Welt jenseits dessen, was konkret erfassbar von ihr ist, zu denken. Damit eine Verständigung möglich ist, müsste der illiterate Mensch lernen, von den konkreten Erscheinungen abzusehen.

Anders gesagt: Der Homo literatus hat gelernt, die Welt zu visualisieren und zu interpretieren. Sein Denken vollzieht sich in einer Sprache, die er sich als Buchstabenketten vorstellt, die sich unabhängig von jeder Erfahrung reproduzieren lassen und die das sprachliche Denken vom Handeln trennen.

McLuhan zufolge resultierte aus dieser Kluft zwischen Denken und Handeln, Verstand und Gefühl, konkreter Erscheinung und abstrahierender Interpretation eine Schizophrenie von Denken und Fühlen, die für den Einzelnen wie für die gesamte literalisierte Gesellschaft zum Trauma wurde.

Vom Ohr zum Auge: Wandel in der sinnlichen Wahrnehmung

Nicht nur im Denken unterscheiden sich der Illiterate, der außerhalb einer Schriftkultur aufgewachsen ist, und der Schriftgelehrte. Auch ihre sinnliche Wahrnehmung unterscheidet sich. Wesentlich für diesen Wandel ist die zunehmende Dominanz des Sehens über das Hören, die mit der Etablierung einer allgemeinen Buch- und Dokumentenkultur einherging.

Illiterate Menschen hören, erinnern und aktualisieren Traditionen

Für den illiteraten Menschen ist das Wort Klang, der kurz nachhallt, der sich so schnell verflüchtigt, wie er hervorgebracht wurde. Klang (Sound) aber, so stellte es Walter J. Ong in seinen Studien zur oralen Tradition dar, ist mit der Präsenz eines Sprechers und mit dem Leben im Hier und Jetzt verbunden.

Der Sprecher bedient sich in einer oralen Tradition bestimmter Formen, seinem Gedächtnis Geschichten und Überlieferungen einzuprägen. Im Sprechen hat er die Möglichkeit, diese Überlieferung beständig zu aktualisieren, den Bezug zur Situation herzustellen.

Literalisierte sehen, wiederholen und deuten voraus, was verbindlich geschrieben steht

Für den Literalisierten ist das Wort dagegen aus Buchstaben zusammengesetzt, die er durch den Buchdruck nicht mehr mühselig einfangen und auf Papier malen muss, sondern die sich beliebig oft speichern und reproduzieren lassen. Die Anwesenheit eines Sprechers ist nicht erforderlich, man kann sich mit einem Buch auch köstlich allein unterhalten. Die Schrift ist ein Mittel, die Vergangenheit zu konservieren und die Zukunft vorwegzunehmen. Das Buch ist das Medium der Abwesenheit und einer Kommunikation, die Zeit und Raum überschreitet.

Wandel in der Kommunikation: vom Gespräch unter Anwesenden zum stummen Dialog der Abwesenden

Insgesamt ging mit der Verschriftlichung der Welt, wie sie der Buchdruck ermöglichte, also auch eine Verschiebung der Sinnestätigkeit vom Hören zum Sehen einher, die alle menschlichen Beziehungen zur physischen Welt und zu anderen Menschen umfasste und tiefgreifend veränderte. Das Gespräch ereignet sich unter Anwesenden. Der Dialog mit dem Buch erfolgt in Abwesenheit und Abgeschiedenheit.

Auch Marshall McLuhan, der den Zusammenhang zwischen neuen Technologien und deren Einfluss auf die Wahrnehmung untersuchte, sah diese vehemente Verschiebung der Sinneswahrnehmung vom Ohr zum Auge als entscheidend für den Übergang von der illiteraten zur literarisierten Gesellschaft.

Veränderung von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung / Identitätsfindung

Ong zufolge ging der Prozess der Verschriftlichung zudem mit einem wesentlichen Wandel in der Selbst- und Fremdwahrnehmung einher. In einer Kultur der Abwesenheit erkennt sich der Leser nicht mehr im anwesenden Du, sondern in der beschriebenen Seite. Er spiegelt sich nicht im Auge des Betrachters, sondern identifiziert sich mit Figuren, die von einem anderen geschaffen wurden.

Selbstwahrnehmung und Bewusstwerdung verlaufen dann auf dem Umweg von Interpretation und Identifikation. Sie lösen sich vom Kontext des Gewordenseins – von der Herkunft, vom Geschlecht, vom Weltwissen eines Menschen. Darin liegt das Versprechen, jederzeit alles werden oder sein zu können, sofern man es sich nur vorzustellen vermag, sofern man zum Schriftsteller des eigenen Lebens wird.

Gleichzeitig gerät der literarisierte Mensch darüber in diverse Abhängigkeiten und löst sich aus dem, was ihm bisher Grundlage seiner Biografie und seiner Identifikation war. Seine Identität bezieht sich nicht auf eine Herkunft, sondern auf ein Dokument, das sie bestätigt. Seine größte Wirkmacht besteht darin, selbst zum Schrift-Steller zu werden, sich neu zu erfinden. Dazu aber muss er die erforderlichen Techniken zunächst erlernen. Er muss davon absehen, was, wo und wie er geworden ist, um sein zu können, was ihm ein anderer als Möglichkeit vor Augen stellt. Er verlässt das Elternhaus, das ihn geformt hat, um sich in einer Institution fort-bilden zu lassen.

Veränderung im Zeitempfinden: vom Kreis zur Linearität

Das Auge scheint dem Rausch eher zu verfallen als das Ohr. Schon im Übergang zur Buchgesellschaft hatten die Menschen die Empfindung, dass die Zeit plötzlich rast. Das lag auch, aber nicht nur am Sinnenwandel. Auch die Vorstellung von Zeit und Rhythmus erfuhren durch den Buchdruck eine mindestens so wichtige Neugestaltung wie durch die Erfindung der Uhr.

Denn während die Uhr noch im Kreis läuft und damit zumindest visuell den Kreislauf der Natur abbildet, verläuft die Schrift linear. Der Kreis kennt kein oben oder unten, kein links oder rechts, es ist allenfalls der Betrachter, der diese Einteilung festlegt. Die Linie aber unterteilt den Raum in genau diese Bereiche, sie schafft örtliche und zeitliche Hierarchien, die Zuordnung von vorher und nachher, alt und neu, antiquiert und modern.

Als Zeitlinie wird sie zum Pfeil, der stets nach vorne weist. Der schriftgelehrte Mensch ist daher auch einer, für den Fortschritt unaufhaltsam voranschreitet, und zwar in nur eine Richtung. Im Unterschied zum Illiteraten aktualisiert er die Vergangenheit nicht, er hat genug damit zu tun, das Morgen vorzubereiten. Will er etwas über die Vergangenheit wissen, schaut er im Geschichtsbuch nach, holt er seine Speicherplätze, die Bücher hervor, um zu lesen, wie es die Alten einst trieben. Der Buchdruck ermöglichte damit auch eine Zweiteilung in rückwärtsgewandte Menschen, die die Zeit gern aufhalten oder zurückdrehen wollen. Und in solche, die es unablässig vorantreibt, ohne Rücksicht auf Traditionen und Rhythmen. Tatsächlich trägt er aber dazu bei, Vorstellungen zu konservieren. Wie alle Technologien ist der Buchdruck daher in erster Linie rückwärtsgewandt.

Doch wo zuvor Rhythmus und Wiederholung das Dasein bestimmten, gab nun ein rastloses Vorwärts den Takt an. Hinzu kam, dass auch das Wissen nun viel schneller angehäuft und weitergegeben werden konnte. Statt in den Beruf des Vaters hineinzuwachsen, die Welt durchs Handeln zu erkennen, ergab sich die Notwendigkeit, sich unterweisen zu lassen, um Wissen anzuhäufen, das selbst einem rasanten Wandel unterlag und beständiger Interpretation bedurfte.

Weitergabe von Wissen und die theoretische Eröffnung neuer Möglichkeiten

Wie Wissen in schriftlosen und verschrifteten Gesellschaften weitergegeben wird, war ein Forschungsschwerpunkt von Jack Goody. In oralen Gesellschaften erfolgt Goody zufolge die Weitergabe von Wissen im Kontext von Handeln und Verstehen. Man könnte auch sagen: Der Schusterjunge blieb bei seinen Leisten.

In schriftlichen Gesellschaften erfolgt die Weitergabe von Wissen in Bildungseinrichtungen, unabhängig von einem konkreten Kontext. Wissen wird zunächst einmal von “Experten” angehäuft,gesichtet, eingeordnet und vermittelt. Damit einher geht, dass sich auch dem Schusterjungen nun die Möglichkeit eröffnet, Experte zu werden. Zumindest der Theorie nach. In der Praxis hatte sich, in dem Moment, da die Masse der Schusterjungen sich mit den neuen Technologien vertraut gemacht hatte, längst eine neue Schicht herausgebildet, die die entscheidenden Positionen innerhalb der Gesellschaft besetzte u n d das Wissen des Schusters für sich beanspruchte.

Die Vernichtung des ungebildeten natürlichen Feindes

Literalisierung brachte nicht nur den gebildeten Schusterjungen, sondern auch das Feindbild des neuen Schriftgelehrten hervor: die Hexe und den Häretiker.

Hexen sind – dem Verfasser des erstmals 1486 gedruckten „Hexenhammers“ zufolge – ungebildet, sprechen mit böser Zunge, aber in verführerischer Intonation, und sie vertrauen auf Analogien und Klänge statt auf Ursache-Wirkungs-Verhältnisse und Schriftstücke.

Doch hatte Institoris – oder wer immer den Hexenhammer verfasste – ein Problem: Der Glaube an das Dämonische, an Hexen und Zauberer passte zu Beginn des 15. Jahrhunderts noch nicht in die katholische Lehre. Er musste daher zunächst beweisen, dass es Hexen wirklich gibt und dass diese Feststellung nicht gegen den katholischen Glauben verstößt. Er musste beweisen, dass nicht er selbst der Ketzer oder Häretiker war.

Und das tat Institoris, mit aller Inbrunst und aller Gelehrsamkeit, die ihm zur Verfügung stand. In bester Manier des Schriftgelehrten breitete er das aus Büchern angehäufte Wissen vor seinen Lesern aus. Er zitiert, argumentiert, klassifiziert und kategorisiert. Erfolgreich, zumindest bei allen, die wie er die ungebildeten u n d jene Gebildeten hassen,die an seinen Ausführungen und seiner Art der Argumentation zweifeln.  29 Mal wird der Hexenhammer neu aufgelegt, bis weit ins 17. Jahrhundert hinein.

Obwohl es der Verfasser des Hexenhammers war, der die Druckerpresse nutzte, um mit der kirchlichen Tradition zu brechen, sind die meisten Menschen heute noch überzeugt, Hexenverfolgungen hätten sich vor allem im finsteren Mittelalter ereignet. Tatsächlich fallen sie in eine Zeit der Transformation von Kommunikationsformen, von Wissensvermittlung und Wissenserwerb, die sich bis weit in die Aufklärung erstreckt. Eine Zeit, in der sich eine neue Art des Schriftgelehrten ausbreitet, der die Tradition nicht aktualisiert, sondern Wissen anhäuft, um damit seine eigenen Argumentationsketten und Sichtweisen zu belegen. Und der jeden bekämpft, der sich dieser Art des vermeintlich neuen Wissens nicht unterwerfen will.

Widerhall fand die Hexenjagd vielleicht auch deshalb, weil die Transformation Menschen den Boden unter den Füßen wegzureißen schien, die Beschleunigung, Sinneswandel und vielfache gesellschaftliche Umbrüche erfuhren. Aus Klugheit wurde Intellekt, aus Erfahrung wurde Belesenheit, für Alltägliches brauchte es erworbene Expertise. Das Weib dagegen, wie der Hexenhammer es beschreibt, ist entweder eine kluge und keusche Seele oder der Inbegriff des natürlichen, sinnlichen, ungebildeten Menschen, den Institoris ebenso verabscheut wie alle, die sich aufgrund ihres Bildungsgrades seiner Position widersetzen. Neben die ungebildete Hexe tritt der Häretiker, der in all seiner Gelehrsamkeit ebenfalls vernichtet werden muss.

Halten wir fest: Die Hoch-Zeit der Hexenverbrennungen liegt nicht im finsteren Mittelalter, in dem es den Geistlichen vorbehalten war, die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens zu erlernen, sondern in der Neuzeit. Ohne den Buchdruck, ohne eine Neustrukturierung des Denkens, ohne einen Sinneswandel vom Auge zum Ohr und ohne die Veränderungen in der Art, wie Wissen zusammengetragen und weitergegeben wurde, wäre dies nicht möglich gewesen.

Die Verschriftlichung der Welt lässt sich damit auch als Prozess begreifen, in dessen Verlauf Weiblichkeit zum Synonym für ungebildete Natürlichkeit wurde – was die einen als hassenswert bekämpften, die anderen Jahrhunderte später hübsch aufgeklärt und romantisiert als natürliche Anmut zu domestizieren versuchten.

Das Ineinander von Gelehrsamkeit und Scharlatanerie, Magie und Wissenschaft

Am Hexenhammer wird deutlich, was Goody als  „Ineinander“ verschiedener Formen der mündlichen und schriftlichen Bildung und Überlieferung bezeichnete. Es existiert keine eindeutige Dichotomie von „gebildet“ oder „ungebildet“, von mythischer oder wissenschaftlicher Vorstellungswelt. Beide Denkformen sind miteinander verwoben, gehen aus- und ineinander über. Ein Zusammenhang, den Adorno/Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ ebenfalls thematisierten.

Neben den Gebildeten und den Ungebildeten finden wir daher auch im und nach dem Übergang zur Verschriftlichung jede Menge Halbgebildeter, Scharlatane, Betrüger und „Fake-News“-Verbreiter. Und wir finden Menschen wie Institoris, die sich die Logik der Schrift zu eigen machen, um schließlich in unerbittliche Streitereien und kriegerische Auseinandersetzungen darüber zu geraten, welche Schrift und welche Tradition die richtige und wahre sei, welche Religion und welche Sprache die von Gott geschaffene und welcher Art von Gelehrsamkeit zu folgen sei.

Davon unbeirrt setzte die Technologie und setzten die Technologen ihren Siegeszug fort. Die Menschen lernten, die Welt zu entziffern und alles, was sich ereignete, nach der Logik von Ursache und Wirkung zu beurteilen. Sie lernten, sich selbst mit den Metaphern der Technologie zu beschreiben und der Logik der Linearität zu folgen. Sie verstanden, dass der Mensch nur ein unbeschriebenes Blatt ist, abhängig von der Unterweisung durch die Gebildeten, die wissen, was gut, richtig, gesund und förderlich für alle ist.

Bezug zur Gegenwart

Die digitale Transformation beendet diese Epoche der Schriftgelehrsamkeit, auch wenn sie von Versuchen begleitet wird, das Wissen der Welt in groß angelegten Werken wie der Wikipedia oder dem Projekt Gutenberg zu bewahren. Oder vielleicht auch und gerade, weil sie dies ermöglicht. Denn wie wir gesehen haben, kennzeichnet gerade der Wandel in der Tradierung und Weitergabe von Wissen den Übergang und schließlich den Bruch zwischen oraler und literarisierter Gesellschaft.

(Ihr seht, ich bin kein Fan von solchen Projekten. Ich verweise in diesem Beitrag dennoch auf Wikipedia-Artikel, weil sie am einfachsten zugänglich sind und vertraue darauf, dass alle, die sich ernsthaft für die Thematik interessieren, darüber den Weg zu weiterführender Literatur finden.)

In gleicher Weise wird sie unser Denken, Fühlen und Wahrnehmen, unser Zeitempfinden und unsere sinnlichen Erfahrungen verändern und variieren. Sie liefert uns neue Metaphern, mit denen wir uns selbst belegen – schon heute ist niemand mehr ein unbeschriebenes Blatt oder ein offenes Buch, in dem sich lesen lässt, sondern eine Hardware, auf deren Festplatte Software in beliebiger Zusammenstellung installiert wird.

Und die Wirklichkeit, in der wir alle nach wie vor leben, verwandelt sich in unserer Vorstellung zunehmend in einen Code, den die meisten von uns nicht mehr verstehen. Darüber hinaus verändert der Umgang mit digitalen Technologien bereits konkret unsere sinnliche Wahrnehmung. Davon zeugen nicht nur „Smombies“, wir alle verlieren, mehr und mehr den Durchblick, je länger wir auf ein Gerät starren. (Changizi).

Die Veränderungen, die sich daraus ergeben, werden aber nicht nur jene betreffen, die das Smartphone nutzen oder ständig online sind. Wie sich eine neue Massen-Technologie auf die Köpfe und Herzen auswirkt, ist unabhängig davon, wer sie benutzt und wer nicht.

Von der Metaphern spendenden Welt zur Welt als Metapher

Während ich über all dies nachdenke und versuche, es in Worte zu fassen, bin ich gleichzeitig mit etwas beschäftigt, was sich „Migration“ nennt. Damit meine ich nicht die „Wanderbewegungen“ von Flüchtlingen und von Menschen, die sich aufmachen in eine vermeintlich bessere Welt.

Ich versuche, mit meiner Website und meinem Blog zu einem neuen Host umzuziehen. Und ich bemerke zweierlei: In welche neuen Abhängigkeiten mich die Digitalisierung bereits gebracht hat. Und in welcher Weise sich die Wirklichkeit als Metaphern-Spender bereits in eine Realität gewandelt hat, die selbst nur noch Metapher oder besser gesagt Quellcode ist, den wir lesen, aber nicht verarbeiten können.

Zu dieser neuen Realität gehört, dass ich mit Menschen spreche, die sich mir und denen ich mich kaum noch verständlich machen kann. Weil „Space“ und “Raum” so wenig dasselbe bezeichnen wie Bitcoins und Münzen. Immerhin sind diese Menschen so freundlich, mir noch einen blauen oder gelben Ordner auf den Desktop zu pinseln, sodass ich nicht bemerken muss, dass das, was ich gerade tue, mit meinem bisherigen Wissen von der Welt nichts mehr zu tun hat.

Erfahrung, Kenntnis, Bildung, Werden – für all das gibt es in der digitalisierten Welt keine Notwendigkeit mehr. Deutlich wird dies schon an der Sprache, die von einem Tag auf den anderen neue Bedeutungen in sich aufsagt. Denn während ich virtuell migriere, träumen Millionen Menschen davon, physisch zu migrieren oder haben es bereits getan, um einer durch und durch brutalen Wirklichkeit zu entkommen.

Der Begriff „Migration“ ist daher auch ein gutes Beispiel dafür, dass wir gegenwärtig noch zu unterscheiden wissen zwischen einer physischen und einer virtuellen Realität. Die meisten von uns haben schon mal einen echten Ordner in der Hand gehabt. Die Chirurgen wissen noch, wie sich der warme Körper eines lebenden Patienten anfühlt und die Leichenbestatter erkennen die ersten Zeichen der eintretenden Leichenstarre.

Wir können den Symbolen, mit denen wir hantieren, noch eine Erinnerung an etwas zuordnen, was physisch existierte, woran sie erinnern. Durch die Digitalisierung wird dieses Wissen und Können obsolet und es besteht die Gefahr, dass wir wirklich dümmer werden, als es sich von der dümmsten künstlichen Intelligenz behaupten lässt.  Welche Abhängigkeiten sich daraus ergeben werden, mag ich mir nicht vorstellen.

Der Rückgriff auf die Epoche der Literalisierung eröffnet uns die Chance, den Wandel, wie er sich aktuell ereignet, in den Blick zu bekommen. Ob es uns gelingen wird, ihn deshalb auch zu steuern, unseren Vorstellungen anzupassen, statt uns willenlos zu unterwerfen? Wird die Technik unser Leben steuern oder die Kultur? Wird sie Unterwerfung und Kriege einfordern, um sich gegen die “Ungebildeten”, die sie zur Vernichtung freigibt, durchsetzen zu können, oder wird sie nun endlich das Zeitalter des Wassermanns einleiten?

Ich bleibe skeptisch.


Kleiner Hinweis in eigener Sache: Mit dem Übergang von der oralen zur literarisierten Gesellschaft habe ich mich schon 1996 in meiner Magisterarbeit befasst. Und am Beispiel eines der wichtigsten Romane des deutschen Barock die Thematik aufzuzeigen versucht, am Simplicissimus von Grimmelshausen. Nur, falls ihr von dem Thema noch nicht genug habt. 😉

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