Ist Lesen gesund?

Es gibt so Fragen, die mich am Verstand derer zweifeln lassen, die sie stellen.

Ist Leben gesund? Ist Atmen gesund?

Natürlich nicht. Ebenso wenig wie das Lesen. Lesen heißt leben, heißt lieben, schauern, mitfühlen, erbeben, staunen, wissen wollen, analysieren, genervt sein, ablehnen, befürworten, den Verstand oder das Gefühl schärfen, nachhallen lassen, spotten, erleiden, in Trance verfallen, übersättigt oder leer sein, träumen oder halluzinieren …

Wenn du also keinen anderen Grund zum Lesen hast als den, gesund zu bleiben, lass es lieber. Warum, das habe ich in der folgenden kleinen Schreibübung zu erzählen versucht, die schildert, was wirklich geschieht, wenn du liest, weil du liest.

 

Lesen

Es waren die 1970er Jahre, die Menschheit war geschäftig bemüht, all die Schandtaten zu vergessen, die das 20. Jahrhundert eingeläutet hatten. Die einst politisch motivierten Studentenunruhen gingen in die Sucht nach psychedelischen Kicks über und in die Kinos zog ein neuartiges Grauen ein, eines, das uns verdeutlichte: Sie waren gar nicht fort, die Toten, sie kehrten schleichend zurück.  

Ich war 10 Jahre alt, noch eingesponnen in die Welt von Hanni und Nanni, während meine älteren Geschwister bereits mit Schaudern in der Stimme vom „Exorzisten“ sprachen. Heimlich, denn meine Eltern hatten es mir verboten, lieh ich das Buch aus, täuschte eine Krankheit vor, damit ich nicht zur Schule musste, und vertiefte mich, sobald der Rest der Familie die Wohnung verlassen hatte, in die Geschichte der in etwa gleichaltrigen Regan.

Die Wohnzimmertür, neben der ich in einem leicht kratzigen Sessel saß, hatte ich nur angelehnt, damit ich gewarnt wäre, sollten sich Schritte nähern. Das Wissen, etwas Verbotenes zu tun, erhöhte die Anspannung, in der ich Seite um Seite verschlang, Gewissensbisse meldeten sich, doch der Sog war zu stark und so ließ ich auch dann nicht von meiner Lektüre ab, als ich bemerkte, dass sich das Böse nicht nur in Regan ausbreitete. Langsam, aber stetig, löste es sich von den Buchseiten, durchdrang meine Augen, meine Blicke, die es in den Raum entließen.

Einmal nur horchte ich auf, um zu bemerken, dass im selben Haus, in dem sonst sechs Familien geschäftigen Lärm verbreiteten, kein einziges Geräusch zu hören war. Nur um im selben Moment aus dem Augenwinkel zu vernehmen, dass die Wohnzimmertür s i c h öffnete, der Spalt zum Türrahmen, der den Blick in den dunklen Flur freigab, größer und größer wurde. Aber da war niemand, keine blutige Hand, die an der Klinke zog. Nur ich und das Böse, das sich emsig über meine stummen Augenhöhlen einen Weg ins Freie bahnte.

Eine Windböe vom Fenster zischte durch den Raum, ich fühlte den Stoß, schrie auf, warf das Buch zu Boden, rannte hinaus, vorbei an dem kalten Hauch, vorbei an der dunklen Nische, die durch einen Vorhang abgehängt war, weil sich dahinter allerlei Unheimliches verbarg. Der Mülleimer mit all dem verwesenden Grauen darin, der Teppichklopfer, der hin und wieder auch das Böse aus uns herausklopfte, das, was man sah, und das, was man nicht sehen konnte. Raus, nur raus, ins rettende Sonnenlicht.

Hätte ich doch damals schon gewusst, dass nur Vampire an der Helligkeit des Tages zugrunde gehen, niemals aber der Augenblick, in dem Satan nur einen Windstoß von uns entfernt ist. Ich hätte sofort und für immer aufgehört zu lesen.

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