Hanau und ein aus dem Netz gefallener Attentäter

Neun Unschuldige aus dem Leben gerissen. Eine tote Mutter, ein Attentäter, der sich vermutlich selbst erledigte. Die Republik im Schmerz vereint. Stummes Mitgefühl, jegliche Hilfe, die wir geben können, sollten wir für die Angehörigen, die Verletzten bereithalten. Dazu gehört auch das Eingeständnis: Wir sind hilflos, wir trauern, wir verstehen nicht. Einmal mehr hat jemand versucht, „uns“ und „euch“ zu separieren. Das lassen wir nicht zu.

Die Kamera läuft, das Wording steht

Stattdessen hastige Schuldzuweisungen und Erklärungsversuche. Die Medienmaschine setzt sich in Gang. Wie vor einigen Jahren, als die Angst vor dem islamistischen Terror groß war, müssen sofort Rückblicke geliefert, Zusammenhänge hergestellt und Ausblicke konstruiert werden. Der ewig gleiche Ablauf. Was wir wissen, wer Schuld hat, was wir tun müssen. Bisweilen entsteht der Eindruck, als stünden wir kurz vor der Machtübernahme. Es kann einem angst und bange werden.

Auch das Wording steht schon. Der Täter habe ein „Manifest“ oder „Bekennerschreiben“ hinterlassen, heißt es. Er sei zutiefst rassistisch, fremdenfeindlich, ein Rechter – sogar die Bildzeitung, die zuvor noch über Auseinandersetzungen im „Milieu“ spekulierte, stimmt nun reißerisch ein.

Der Begriff „Manifest“ suggeriert, Tobias Rathjen, der Attentäter von Hanau, habe sich als Teil einer politischen Gruppierung verstanden, die irgendeinem geheimen Plan folgt, den es zu erfüllen gilt. Doch das einzige, was auf diesen 24 Seiten, die er hinterlassen hat, manifest wird, ist, dass er schon von früher Jugend an Wahnvorstellungen hatte. Dass ihm womöglich irgendetwas wiederfahren ist, was diesen Wahn auslöste, in dem er davon ausging, dass man ihm keine Privatsphäre gönne, dass eine unsichtbare Geheimorganisation ihm ins Hirn schauen könne und dass der Mensch sich selbst ein Feind sei. Dass er sich selbst schließlich als eine Art manipulierter Superman verstand, Opfer und Täter zugleich, der nur durch eine grausame Tat bestätigen kann, wie übel ihm selbst mitgespielt wurde.

Denn genau das war sein Anliegen: Er wollte „beschreiben, warum ich weiß, dass ich von einem Geheimdienst überwacht werde und warum die Bestätigung dessen, was ich sage extrem wichtig ist, auch wenn ich diese nun nicht mehr miterleben kann“.

Vorschneller Konsens ohne Innehalten

Rathjens Rassismus tritt schon Ende der 1990er hervor und nährt sich seiner Schilderung zufolge nicht aus Parteiprogrammen und Ideologien, sondern aus Erzählungen von Bekannten und aus Zeitungsberichten. Er selbst habe eher harmlose Erfahrungen gemacht, lässt er den Leser wissen. Doch erwähnt er einen Banküberfall, in dessen Folge er „als Zeuge Karteikarten von mehreren hundert potentiellen Verdächtigen“ habe  durchsehen  müssen, „wobei diese Personen zu ca. 90 % aus Nicht-Deutschen bestand.“

Seine „Radikalisierung“ ereignet sich zu einer Zeit, in der der Verfassungsschutz  mit Millionenzahlungen rechte Parteien und Organisationen unterstützt, vermeintlich, um Informationen zu gewinnen. Eine AfD gab es zu dieser Zeit nicht. Wohl aber einen gut genährten NSU, grauenhafte Erschießungskommandos und den Versuch, die Verstrickung staatlicher Organe in diese Morde zu vertuschen, sowie ein gescheitertes NPD-Verbotsverfahren, weil niemand mehr auseinanderhalten konnte, was parteilich und was staatlich inszenierte Gewalt war.

Wie kompliziert es ist, diesen Sumpf trockenzulegen, wissen wir alle. Wer alles daran mitgearbeitet hat, diese „neue Rechte“ heranzuzüchten, bleibt noch 120 Jahre unter Verschluss. Fünf Jahre zog sich der Prozess gegen Beate Zschäpe, wie viele Anwälte hat sie in diesen Jahren zerschlissen? Vor diesem Hintergrund ist es schier unerträglich, dass hier nun über Nacht ein Typus des Rechtsradikalen konstruiert wird, der es uns allen so einfach macht, mit dem Finger auf ihn zu zeigen.

Satanismus, Missbrauch, Aliens – aber wo ist die politische Agenda?

Seit der Millenniumswende hat sich das Wissen, das wir auf Knopfdruck zuschalten können, nicht demokratisiert, es wurde beliebig. Alles kann heute mit allem in Verbindung gebracht werden. Man muss nur nicht so genau hinschauen und innere Widersprüche übertönen. Auf seiner Website hatte Rathjen Seiten verlinkt, die ihn wohl besonders interessierten und seinen Wahn weiter nährten. Dazu gehörten:

  • Berichte von und über Emery Smith, ein „Veteran der US Air Force mit einer langen Geschichte von Einsätzen in hoch-klassifizierten, tiefschwarz verdeckten Operationen.“ Smith behauptet, „direkt an der Autopsie und Entnahme von Gewebeproben von über 3000 verschiedenen Arten von Außerirdischen beteiligt“ gewesen zu sein.
  • Das Projekt Cannammissing, das von einer Gruppe von Rangern gegründet wurde, die nach Menschen suchen, „die in freier Wildbahn verschwanden, viele unter äußerst ungewöhnlichen Umständen.“
  • Ein Link zu einer Organisation namens Farsight, die das sogenannte „Remote Viewing“ praktiziert, mit dem sich Zeit und Raum angeblich mental überwinden lassen. Auf der Seite findet man unter anderem Videos, die wahre Erkenntnisse über Adolf Hitler oder 9/11 versprechen.
  • Ein YouTube-Video von besagten „Remote Viewern“, die über einen vermissten Jungen berichten, von dem Jahre später Überreste gefunden wurden.
  • YouTube-Videos über Satanismus und sexuellen Missbrauch.
  • Einen Link zu Travis Walton, einem amerikanischen Waldarbeiter, der behauptet, von einem UFO entführt worden zu sein.

Kein einziger Link führt zu einer Organisation oder Partei, die dem Nationalsozialismus huldigt, auch wenn sich auf diesen Seiten gewiss solches Gedankengut aufspüren ließe. Sogar auf Portalen, die offen „politisch unkorrekt“ agieren und sich gewiss über neue Mitstreiter freuen würden, ist man sich einig, dass Rathjen ein psychisch Gestörter war, keiner, der eine Agenda, ein politisches Manifest verfolgte.

Alte Denkmuster beantworten keine neuen Fragen

Neun Unschuldige aus dem Leben gerissen, eine tote Mutter, ein Attentäter, der sich vermutlich selbst erledigt. Der Schmerz, dass wir die Ermordeten nicht schützen konnten. Und wir nehmen uns nicht einmal die Zeit, Antworten auf Fragen von heute zu finden. Wir klammern uns an ein rückwärtsgewandtes Gedenken und den schnellen billigen Konsens, der sich daraus fürs Heute ergibt: „Das“ darf nie wieder geschehen.

Damit „das“ klar ist: Wo rechter Terror herrscht, soll man rechten Terror benennen. Es gibt keine halbherzige Haltung zu Faschismus und Nationalsozialismus. Man kann nicht ein bisschen dafür oder dagegen sein. Aber diese Vermischung von allem mit allem, diese Relativierung des Nationalsozialismus und seiner Opfer ist mir suspekt.

Wir haben in diesem Land ein zum Teil selbst gezüchtetes Problem mit alten und neuen Nazis. Das Attentat von Hanau war nach allem, was der Täter selbst uns darüber wissen lässt, nicht politisch motiviert, sondern entsprach einer rassistischen Weltanschauung, die sich nirgendwo verortet, sondern frei durchs Netz schwirrt. Das ist das Neue daran. Wir erleben etwas, was wir nicht einordnen können, was sich spontan entwickelt, was unberechenbar ist. Das Verheerende und das Verstörende ist, dass zu viele genau das nicht sehen wollen, weil die Antwort einen Teil der Bevölkerung verunsichern könnte und weil es bequemer ist, auf neue Probleme mit alten Denkmustern zu reagieren.

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