Darüber darf man ja eh nicht reden oder: Wahrheiten erfinden und verbreiten für Anfänger

So testest du, ob du im Besitz der Wahrheit bist

Die Lüge ummantelt sich gern mit zerfaserten und zerfaselten Wahrheiten. Davon leben gegenwärtig zahlreiche wilde Spekulationen, in denen sich jeder lang und breit zu allem und jedem äußert. Um dann zu bedauern, dass man in diesem Lande die Wahrheit ja eh nicht mehr sagen dürfe.

Der Ablauf ist eigentlich immer derselbe: Jemand wirft erregt eine Nachricht in die Runde, die er irgendwo gelesen oder gehört hat. Sehr beliebt sind momentan Meldungen, denen zufolge Deutschen (also den richtigen Deutschen) irgendwas weggenommen werden soll, Katholiken Brunnen vergiften oder irgendein Weltuntergang bevorsteht, an dem wahlweise die Juden, die Moslems, der Papst, der Mond oder Frau Merkel schuld sind.

Es können aber auch historische Wahrheiten sein, so etwas wie: Der Zweite Weltkrieg hat gar nicht stattgefunden/ist nur aus Versehen passiert/war eine Planung der Schappaluten!

Oder: Historiker haben herausgefunden, dass schon seit dem 18. Jahrhundert Pläne bestehen, die Bundesrepublik zu vernichten.

Oder: Schon zu Zeiten Jesu wollten die Juden Weihnachten abschaffen.

Wenn du dir selbst eine solche Wahrheit basteln und sie verbreiten willst, lies am besten diese kleine Anleitung. Im ersten Teil zeige ich dir, wie du deine Wahrheiten gegen kritische Stimmen verteidigst. Im zweiten Teil testest du dich selbst: Bist du bereit, die Wahrheiten der anderen zu glauben? Passen sie zu deinen? Denn wahr ist natürlich immer nur das, was viele teilen. Also viele aus deiner Gruppe.

1. Schritt: Deine Wahrheit aus Sorge und Empörung teilen

Sorge dich, empöre dich, lass es raus. Gründe eine Facebook-Gruppe, die sich der Wahrheitsfindung und -verbreitung widmet, egal ob die anderen Kleingeister das interessiert oder nicht.

Lass als Erstes Unterstützer zu Wort kommen. Das sind Leute, die du persönlich kennst, mit denen du einer Meinung bist. Vielleicht kennst du sie schon aus deiner Arbeitsgruppe. Bekennt offen: Ihr wisst, dass es schwierig ist, die anderen von der eigenen Meinung zu überzeugen. Aber eure Überzeugung ist so neu und wichtig, dass man sie nicht verschweigen darf. Sprecht euch gegenseitig Mut zu: Hey, du, wir schaffen das schon!

2. Schritt: Deine Wahrheit relativieren und stärken

Deine Unterstützer können garantiert noch ein oder zwei weitere Ãrgernisse ins Spiel bringen, die ihrer Meinung nach gut zu der geposteten Nachricht passen. Ein wenig später folgen weitere Stimmen. Die eine fragt erstaunt nach: „Ist das denn wirklich wahr? Kann ich mir gar nicht vorstellen …“

Geh sanft mit ihr um. Sie ist noch nicht so weit wie du. Antworte zum Beispiel: „Ja, das ist leider wahr. Aber die vereinigten Medien verschweigen uns das.“ Mit etwas Glück findet sich auch eine Quelle. Zum Beispiel auf dem Blog von „Volkes Wahrheit ist des Menschen Himmelreich“.

Eine weitere Stimme nimmt die Botschaft für bare Münze, relativiert aber die Schlussfolgerungen: Naja, aber es sind ja nicht alle so. Es gibt Ausnahmen. Dem kannst du gern zustimmen. Denn Ausnahmen bestätigen ja bekannterweise die Regel. Also ist Ausnahmen zustimmen eine gute Gelegenheit, um zu demonstrieren, dass man durchaus andere Meinungen zulässt und demokratische Spielregeln einhält. Schadet ja nichts.

3. Schritt: Enttarne jede andere Wahrheit als Täuschung

Irgendwer hält es dann irgendwann nicht mehr aus und stört deine bis dahin klare und präzise Analyse. Fragt zum Beispiel: Leute, warum verbreitet ihr solch einen Unsinn? Er oder sie weist auf einen logischen Fehler hin, auf eine Falschmeldung oder führt gar irgendwelche Menschenrechte an. Macht beispielsweise darauf aufmerksam, dass es im 18. Jahrhundert noch keine BRD gab und zu Zeiten Jesu niemand christliche Weihnachten gefeiert hat. Manche drohen auch mit Ausschluss aus der Freundesliste.

Hilft alles nichts. Du bleibst dir treu. Bist du dir nicht sicher, ob du nicht vielleicht doch etwas übersehen hast, sagst du einfach: Die Geschichtsbücher sind sowieso alle gefälscht und die Medien gleichgeschaltet. Und mit Erbsen zählen kommen wir eh nicht voran.

4. Schritt: Vergiss nicht, Gründe anzuführen, warum die anderen ohnehin im Unrecht sind

Sei dir einfach bewusst: Eine Person, die grundlegend anderer Meinung ist als du, ist verblendet, guckt zu viel RTL, isst zu viel Zucker, benutzt die falsche Zahnbürste, vertraut immer noch auf die Öffentlich-Rechtlichen oder weiß eben noch nicht, was du weißt.

Wenn es dir gerade an einer Quelle oder einem Argument mangelt, zitiere einfach eine bekannte Autorität, jemanden, den nun wirklich jeder für einen ganz Großen und Gebildeten hält. Goethe steht ganz oben auf der Liste. Einmal kurz die Suchmaschine anschmeißen und schon findet sich ein passender Ausspruch. Und wenn es nicht ganz passt, macht nichts, merkt eh keiner. Passt schon! Wer mit Menschenrechten argumentiert, ist sowieso ein „Gutmensch“, was ja mittlerweile zum Glück als schlimmer Charakterfehler gilt. Am besten führst du dann noch irgendeinen Wissenschaftler an.

Du weißt nicht, wie man eine wissenschaftliche Quelle bewertet? Kein Problem, das wissen die anderen auch nicht. Hauptsache, es passt in die ins Bild!

Wenn‘s der Wahrheitsfindung dient: Teste dich selbst

Wo stehst du selbst auf der Skala der erfolgreichen Wahrheitenerfinder? Dieser Test ist ganz einfach. Wenn du ihn machen willst, suche einen geheimen Ort auf, an dem du ganz ehrlich zu dir selbst sein kannst. Sprich mit niemandem darüber. Falls du laut liest, sei sicher, dass dich niemand hören kann. Aber nimm dein Smartphone oder dein Tablet mit, denn du musst dich bei Facebook einloggen können.

Bist du bereit?

Dann lies jetzt bitte in all den Schriften und Forenbeiträge, die dir normalerweise zur Wahrheitsfindung dienen. Stelle dir folgende Fragen:

1. Ist eine neue Meldung dabei, die dich besonders erschreckt? Eine, die du sofort mit anderen teilen musst? Was würde geschehen, wenn du sie für dich behieltest? Würde die Welt dann untergehen?

2. Bei allem Erschrecken: Löst das, was du liest, in dir irgendeine Art von Zufriedenheit aus? Hast du es nicht schon immer gewusst? Freust du dich, dass du in einer Annahme bestätigt wurdest? Hat es mal wieder richtig schön Kick gemacht?

3. Wenn es sich um eine kleine Meldung handelt, fügt sie sich dann in eine große Theorie ein? Ein Beispiel: Eine KiTa-Leitung lässt die Gemeinde wissen, dass im Schweinefleisch der Region Giftrückstände gefunden wurde. Dass man daher bis auf Weiteres kein Schweinefleisch mehr verkochen wolle.

Weißt du dann sofort, dass es Islamisten waren, die das Fleisch vergiftet haben, weil sie den Kindern keinen Schweinebraten gönnen, und Weltverschwörer oder EU-Anhänger jetzt daraus Gewinn ziehen, weil sie endlich mehr Rindfleisch verkaufen können?

Wenn du alle oder die meisten Fragen mit Ja beantworten konntest: Glückwunsch! Du hast die höchste Stufe im Wahrheitenerfinden erreicht. Wenn nicht: Mach dir keine Sorgen. Es ist einfacher, als du denkst. Oder anders gesagt: Gib dir einfach mehr Mühe, deinen gesunden Menschenverstand und deine inneren Zweifel zu übertönen.

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