Wenn es um unser hoffnungslos veraltetes Schulsystem geht, fällt garantiert der eine Satz: Warum lernen Schüler heute nicht, wie man eine Steuererklärung macht, statt Gedichte interpretieren zu müssen? Was lernt man von einer Gedichtinterpretation?
Die Antwort ist denkbar einfach: Alles. Denn wer gelernt hat, Gedichte zu interpretieren, der schafft auch die Steuererklärung, wird ein erfolgreicher Suchmaschinenoptimierer, lernt mit links Sprachen oder tüftelt sich ins Programmieren ein. Und er fällt nicht auf Fake News oder populistisches Geschwafel rein, egal von welcher politischen Couleur es geäußert wird.
Die Betonung liegt allerdings auf: Wer gelernt hat, Gedichte zu interpretieren.
Denn selten ist im Unterricht Zeit genug, um diese hohe Kunst wirklich zu erlernen. Und auch Lehrer scheuen insgeheim oft vor Gedichten zurück, wissen sie doch, dass diese Kunstform bei Schülern (und bei ihnen selbst wohl auch) nicht besonders beliebt ist. Da wird dann ein bisschen über verschiedene Literaturepochen gesprochen, man lernt ein paar rhetorische Stilmittel kennen, ohne sie sicher unterscheiden zu können. Versmaß und Reimform beschließen das Repertoire. Die einen „können’s“ schließlich, die anderen nicht. Wie so oft im schulischen Leben.
Ich selbst habe mich mit Gedichten lange Jahre herumgequält. Ich habe sie einfach nicht verstanden. Manche klangen schön, andere nicht, manche hatten eine Aussage, die sich direkt verstehen ließ, andere blieben mir ein Buch mit sieben Siegeln. Oft verstand ich auch nicht, was man alles in ein Gedicht hineininterpretieren konnte. Und mit welcher Berechtigung. Ich fand es respektlos, den Künstlern gegenüber, einem Gedicht einfach die eigene zeitgenössische Lesart überzustülpen.
Geändert hat sich das erst, als ich auf einen Lehrer traf, der die Kunst Gedichte zu interpretieren auf eine empörend sachliche Weise unterrichtet. Da wurde nicht wild heruminterpretiert und es wurden auch keine Mutmaßungen angestellt, was der Dichter/die Dichterin uns sagen will. Stattdessen wurde das vorliegende Material akribisch gezählt, gemessen, sortiert, geordnet und es wurden erst dann Schlussfolgerungen daraus gezogen.
Das Material von Gedichten ist Sprache, weshalb du ein Gedicht eben auch nur verstehen und analysieren kannst, wenn du dich mit der Sprache befasst. Welche Nomina sind vorhanden und wie viele davon sind Konkreta oder Abstrakta? Aus welchem Bereich stammen die Substantive? Welche Personalpronomen tauchen auf, welche Verben? Welche Zeit- und Aussageformen? Je verschlossener dir ein Gedicht erscheint, desto mehr Zeit musst du darauf verwenden, sein Material zu untersuchen. Und nur, wenn du am Ende eine Überraschung erlebst, weil du feststellst, dass
- das Gedicht eine völlig andere Aussage hat, als du es bisher dachtest, oder
- du jetzt begründen kannst, was du von Anfang an vermutet hast,
hast du alles richtig gemacht.
Wer Gedichte interpretiert, kämpft mit der Sprache, nimmt Sätze und Aussagen auseinander, befasst sich mit der Sachebene, mit Appellen, Emotionen, Informationen, rhetorischen Stilmitteln und logischen Satzanschlüssen oder Brüchen. Wer dabei nicht locker lässt, der lernt etwas Grundlegendes fürs Leben: die Steuererklärung ausfüllen ist keine Geheimwissenschaft. Suchmaschinenoptimierung besteht nicht einfach darin, Keywords ins Leere zu streuen, sondern sie kunstvoll in einen Text einzubauen. Sprachen lernen sich leichter, wenn man Wörter nicht einfach als Buchstabenreihen begreift. Eine Statistik ergibt nur Sinn, wenn man sie in Worte fasst. Und was der Herr Populist das wieder von sich gegeben hat, ist keine warme empathische Rede, sondern billig zusammengeholztes Geschwafel.
Für mich liegt der Sinn des Interpretierens im Versuch, zu verstehen. Ich lobe den Selbstzweck, wo immer ich kann. Aber auch, wenn es dir völlig gleichgültig ist, Literatur zu verstehen, denke noch einmal darüber nach, was dir wirklich mehr im Leben hilft: eine Steuererklärung ausfüllen. Oder dir einen Weg zur Erkenntnis zu erschließen, auf dem dein Denken Unabhängigkeit und Selbstermächtigung erlangt. In allen Bereichen.