Alexander Grau: Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität. Rezension

Politischer Kitsch hat Hochkonjunktur“, so lautet die einleitende These des Philosophen Alexander Grau in seinem 2019 erschienenen Essay. Kitsch definiert er darin als eine „Lüge“, da dieser „behauptet etwas zu sein, was er nicht ist. Und er gibt vor, einen Wert zu haben, der ihm nicht zukommt.“ Damit ist natürlich nicht die kleine Engelsfigur gemeint, die vor Herzchen drapiert, den Wohnzimmeraltar verschönert. Grau spricht vom politischen Kitsch, der sich als reflektierte Meinung, als Kampf gegen das Böse, Ungerechte oder auch als Ultima Ratio ausgibt.

Die Lüge besteht darin, dass „das kitschige Bewusstsein […] nicht verstehen“ will, „es will dazugehören und geborgen sein.“ Deshalb fügt es sich dem, woran alle glauben und was so leicht zu behaupten, aber letztlich so schwer mit Inhalten zu füllen ist wie beispielsweise, dass man für Frieden, Umweltschutz oder Gerechtigkeit eintritt.

In seinen weiteren Ausführungen arbeitet Grau mehr oder weniger präzise heraus, was diesen politischen Kitsch auszeichnet. So ist ihm beispielsweise wesentlich, dass er keinen Widerspruch duldet und mit dem, was in der Realität geschieht, nur selten etwas gemein hat.

Verkitschtes Denken, so verstehe ich es, zielt auf ein verklärtes Ideal, das nicht zu erreichen ist, wähnt sich als moralisch erhaben, ohne das Angestrebte tatsächlich realisieren zu können, und nimmt daher im Extremfall sogar in Kauf, dass das genaue Gegenteil dessen eintritt, was man erreichen wollte, sofern nur Traum und Ideologie unangefochten bleiben.

Die daraus resultierende Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, kann jedoch leicht in Aggression oder Hass umschlagen – und sich gegen all jene wenden, die behaupten, dass die Welt etwas komplexer sein könnte, als es das kitschige Denken wahrhaben möchte.

Kitschiges Denken als Begleiter des emanzipierten Bürgertums

Im Versuch, die Entstehung des kitschigen Denkens zu erklären, beschreibt Grau dieses als eine „Erfindung des Bürgertums“, das damit auf die Sinnentleerung einer aufgeklärten und technologisierten Welt antwortet. Weder die vom Feudalismus geprägte Religiosität noch der von jeglichem Glauben bereinigte Materialismus boten dem an die Macht strebenden Bürgertum Gelegenheit, eine ihm gemäße Ästhetik oder Sittlichkeit zu definieren.

Erst in der Ästhetisierung von Natur und Politik, wie sie beispielsweise die Romantik auszeichnet, und in der Hinwendung zum schönen, gefühligen, sentimentalen und moralisch sittsamen Individuum, wie wir es im Idealismus, aber auch im Sturm und Drang finden, gewinnt das politisch kitschige Denken eine Heimstatt. Eine allerdings, die sich leicht auch in ihr Gegenteil verkehren kann, denn die Wirklichkeit wird innerhalb eines solchen Denkens, das ganz vom Empfinden gelenkt ist, mit quasireligiöser Bedeutung überfrachtet.

Quasireligiöse Debatten – eine deutsche Spezialität

Unterstützt wird diese Haltung Grau zufolge von einem intellektuellen Kitsch, der sich als „Ambivalenzverweigerung“ geriert und wie der politische Kitsch behauptet, im Grunde sei alles ganz einfach, ein wenig Herz und Empathie reichten aus, um die Welt zu verstehen und ihre Probleme zu lösen.

Feind des kitschigen Denkens ist dagegen jeder, der genau diese Haltung skeptisch hinterfragt. Da der politische Kitsch der Realität beständig eine quasireligiöse Bedeutung und dadurch Sinn verleiht, während er ihre Komplexität leugnet, kommt ein Verstoß gegen seine Denkgebote einer Entthronung des höchsten Gerichtes gleich. Dass gerade in Deutschland eine solche Haltung besonders häufig vorzufinden ist, dass hier jede Debatte um Nahrung, Natur, Fortschritt, Gerechtigkeit und dergleichen mehr, allzu schnell in einen Religionskrieg ausartet, scheint mir hinlänglich bekannt.

Leseempfehlung trotz einiger Zweifel

Alexander Graus Essay über das kitschige Denken fügt meiner Ansicht nach dem gegenwärtigen Diskurs von AfD bis Zuckersteuer eine wichtige Komponente hinzu. Er lässt dennoch auch Zweifel zurück – etwa was seine Polarisierung von Emotion und Rationalität, von subjektiver Erfahrung und wissenschaftlicher Beweiskraft betrifft. Mir scheint einiges an seiner Argumentation zudem gewollt bis zäh, auch hätte das Buch sicher gewonnen, wenn der Begriff „Kitsch“ wenigstens hier und da mal durch einen anderen Ausdruck ersetzt worden wäre.

Letztlich fehlt mir hier auch ein kritischer Blick auf eine Vorstellung von Wissenschaft und Rationalität, die diese selbst wiederum mit quasireligiöser Bedeutung ausstattet, und zwar nicht nur in dem von Grau thematisierten Bereich der „esoterischen“ oder „ganzheitlich“ orientierten Medizin.  Was einen Großteil der medizinischen Forschung von heute auszeichnet, ist schließlich gerade ihr Heilsversprechen für morgen.

Wenn ich das Büchlein dennoch empfehle, dann deshalb, weil es eine große Herausforderung für jeden darstellt, der sich nicht vorstellen kann, was es an der Forderung nach Friede, Freude, Eierkuchen zu kritisieren geben könnte. Erst im Dulden und Aushalten von Ambivalenzen zeigt sich schließlich, ob wir wirklich Frieden oder einfach nur Recht behalten wollen.

Zitate und Ausführungen beziehen sich auf die E-Book-Ausgabe. Erhältlich ist „Politischer Kitsch“ von Alexander Grau als Printversion und als E-Book beim Claudius-Verlag oder bei allen bekannten Händlern.

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