Offener Brief an meine geheimen Mitleser – in der NSA und andernorts

Randnotiz zum symbolic fallout einer Debatte*

Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu verhalten, als kennte er mich.“

Robert Walser

Liebe NSA,

wie du sicher weißt, bin ich gerade aus dem Urlaub zurück, daher hast du eine Weile wenig von mir gehört. Bevor wir nach Dänemark aufbrachen, war ich noch in großer Sorge über all das, was ich von dir erfahren musste, obwohl ich und viele andere sich das ja längst hätten denken können. Doch Westjütland ist immer noch ein sagenumwobenes Plätzchen – und damit meine ich sicher nicht die Bunkerüberreste –, ein Landstrich, in dem ich mich in meine Kindheit zurückversetzt fühle, in eine Zeit, in der meine Mutter sagte: „Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand‘“ – wenn wir Kinder versuchten, mithilfe einer Tasse die elterlichen Gespräche abzuhören.

An unserem Urlaubsort erwartete mich ein großer Garten, in dem ein ungeheuer geschäftiges Treiben herrschte: Ameisen und zahlreiche mir unbekannte Insektenarten lebten in friedlicher Koexistenz, waren Tag und Nacht damit beschäftigt, Aufgaben zu erfüllen, von denen ich nichts verstand. Unterm Dach hatten Spatzen ihre Nester gebaut, die fleißigen Spatzeneltern schleppten Unmengen an Nahrung herbei, um ihre schreienden Jungen zu füttern, bis diese endlich flügge waren.

Ja, dieses geschäftige Treiben erinnerte mich irgendwie an dich und doch beruhigte es mich. Während also alle um mich herum unermüdlich rackerten und ackerten, wurde ich immer ruhiger und untätiger. Der tägliche Tanz mit der wilden Schönen Nordsee gehörte zu den wichtigsten Aufgaben im Leben. Und abends, mit einem Glas Rotwein und einem guten Buch auf der Terrasse sitzend, dachte ich dann nur noch: Ach NSA, wer bist du schon. Was weißt denn du.

Alles im Fluss – kein Datenstrom kann mich erfassen

Fern von meinem Arbeitszimmer, mitten im Leben, das auf die einfachsten Tätigkeiten beschränkt ist, ohne eilige Aufträge, ohne Toaster und Waschmaschine kamst du mir so klein vor. Eine Fußnote. Ein Wirrkopf, der glaubt, er könne mich erfassen. Aber weißt du: Ich bin kein Datenbündel, keine Ansammlung aus Informationen. Ich lasse mir von dir keine Identität unterschieben. Alles, was du über mich zu wissen glaubst, ist das Ergebnis deiner Interpretation.

Seit der Erfindung des Buchdrucks ist der Mensch kein unbeschriebenes Blatt mehr, sondern ein Roman, ein Gedicht, ein Werk – du kannst mich lesen und deuten, aber du kannst mich nicht wissen. Und weißt du was: Mit meinen fast 50 Jahren nehme ich mir sogar heraus, heute nicht mehr dieselbe zu sein wie gestern. Tut mir leid für dich, es gibt keinen Datenstrom, der dir verrät, wie ich pulsiere.

Spionieren können wir auch ohne dich

Nebenbei bemerkt, so pfeifen es die Spatzen von den Dächern, bist du ja auch nicht der einzige umtriebige Spion in meiner Onlinewelt. Dass soziale Netzwerke und Suchmaschinen gern wissen wollen, was ihre Nutzer interessiert und wonach es sie gelüstet, ist doch jedem klar. Aber auch der Buch- oder der Weinhändler verfolgt mich mittlerweile.

Ich nutze einige Programme, die mich vor dieser Art der Neugier schützen sollen – und so sehe ich jedes Mal, wenn ich eine Webseite besuche, welche und vor allem wie viele Tracker mir folgen wollen, wessen Langzeitcookies ich akzeptieren soll. Nicht nur mein Arbeitgeber kann verfolgen, was ich nach dem Einloggen tue – ob ich mir zuerst meine Gehaltsabrechnung oder zuerst die neuen Aufträge anschaue. Jeder kann das und viele nutzen es – auch jene, die sich über deine Art der Spionage entrüsten.

Denn zunächst einmal, das wurde mir klar, sind es wir, die Nutzer, die längst akzeptiert haben, dass sie von jedermann ausspioniert werden. Zu ihrem Nutzen natürlich. Die es normal finden, jemanden zu googlen. Die glauben, eine Person zu kennen, weil sie mit ihr „kommunizieren“. Darum schert sich wohl auch kaum einer darum, dass du es tust. Zumal sich eh keiner den Umfang deines emsigen Treibens vorstellen kann.

Über Menschen kann man imaginieren nicht informieren

Nun ist es eine Sache, Daten zu sammeln und eine andere, einen Menschen zu (er-)kennen. Was kann ich über einen Menschen wissen, über dessen Daten ich verfüge? Ich denke an die Zeit zurück, in der ich ein wenig Ahnenforschung betrieben habe. In Bremen ist das relativ einfach möglich, da seit dem 20. August 1811 Napoleons Zivilstandsregister angelegt werden musste, in dem „Geburten, Aufgebote (Proklamationen), Heiraten und Sterbefälle zu beurkunden waren. Sie wurden auch nach der Befreiung Bremens 1813 beibehalten.“

Es war mir also möglich, noch knapp 200 Jahre später festzustellen, wer uneheliche Kinder in die Welt gesetzt hatte, wer konvertiert war, wer einmal im Jahr den Wohnort wechselte und dergleichen mehr. Mithilfe dieser und anderer Quellen gewann ich ein ganz neues Bild von meiner Familie und meinen Vorfahren – nur: Das meiste blieb doch Interpretation und Imagination. Ich konnte mir plötzlich vorstellen, warum Urgroßmutter X so verbittert auf die uneheliche Geburt ihres Enkelkindes reagiert hatte – weil sie am eigenen Leib erfahren haben musste, wie es war, als ledige Mutter im damaligen Preußen. Ich konnte mir vieles zusammenreimen – wissen kann ich es bis heute nicht.

Manchmal bin ich ein Nervenbündel, niemals aber ein Datenbündel

Siehst du, liebe NSA, und nun sehe ich dich vor mir, mit deinen Idijotabyte an Informationen und deinen Versuchen, mich oder eine andere Person zu deuten. Und ich kann dir nur sagen: Das nehme ich dir wirklich übel. Dass du den Leuten einreden willst, du könntest das. Im Grunde verhältst du dich wie ein Techniker, der einen Roboter bastelt und behauptet, der sei ein Mensch. Möglich ist dies erst, nachdem er definiert hat, was menschlich ist. Und nachdem er eine größere Gruppe von Menschen davon überzeugen konnte, dass seine Definition die richtige sei.

Nach wie vor hoffe ich, dass es auch morgen noch ausreichend viele Menschen geben wird, die wissen, dass eine Definition eine Definition ist, mehr nicht. Die sich nicht für Roboter halten – auch wenn sich argumentativ eines Tages gewiss nichts mehr dagegen einwenden lässt.

Und ebenso hoffe ich eben, dass sich bei aller notwendigen Empörung noch Menschen finden werden, die wissen: Du kannst dich abstrampeln so sehr du willst, liebe NSA, du wirst mein Wesen nicht erfassen. Weil ich ein Mensch bin, kein Roboter; vielleicht manchmal, wenn ich nicht gerade den dänischen Ameisen zusehe, ein Nervenbündel, niemals aber ein Datenbündel.

Du erfasst mich nicht, du definierst mich

Liebe NSA, ich würde dich auf Facebook gern zu meiner Freundesliste hinzufügen. Aber leider habe ich neulich gerade eine Abmahnung erhalten, weil ich bei mir persönlich unbekannten Personen angeklopft hatte. Verkehrte Welt: Facebook erlaubt dir, bei mir mitzulesen, solange wir uns nicht kennen. Will ich es dir aber selbst erlauben, erhalte ich eine Sperre. Also musst du weiter im Geheimen mitlesen – und wie man merkt, gibst du da ja nicht einmal mehr Mühe, dies zu vertuschen. Stehst gleich vor der Tür, wenn Naturforscher in deine Lebensräume eindringen wollen.

Nun gut, ich setze schon mal den Kaffee auf. Vielleicht können wir uns dann mal wirklich kennenlernen. Und darüber sprechen, was du mit deinen Informationen auf Dauer tatsächlich anfangen kannst und willst. Um es noch einmal mit dem Zivilstandsregister zu vergleichen: Es dauerte nach deren Einführung über ein Jahrhundert, bis das nationalsozialistische Regime jedermann zwang, eine Ahnentafel anzulegen. Manch ein Kind vom Land überlebte, weil ein christlicher Pfarrer ihm nachträglich eine gefälschte Taufurkunde ausstellte. Mit einem Eintrag ins Zivilstandsregister war und blieb man Jude – auch wenn die Vorfahren bereits vor mehreren Generationen tatsächlich konvertiert waren.

Du bist sicher klug genug, um zu verstehen, was ich damit sagen will. Du erfasst nicht, wer ich bin, sondern du definierst es. Und das nehme ich dir wirklich übel. Aber ich nehme es dir nicht ab. In diesem Sinne: Lies doch, was du willst. Aber tue niemals so, als kenntest du mich.

Liebe Grüße

deine unverstandene Informationsquelle

PS an alle anderen Mitleser: Nein, ich möchte den Spionage-GAU nicht verniedlichen. Was die NSA kann und was sie mit den Daten vermutlich anfängt, darüber schrieb u. a. Gero von Randow in der neuesten Ausgabe der ZEIT (20.07.2013) unter dem Titel „Blick ins große Datensieb“.

*Als „symbolic fallout“ bezeichnet Marshall McLuhan jene Auswirkungen, die eine Technik als Metaphernspender auf die Selbstwahrnehmung hat. Mein Eindruck ist, dass die Debatte um die Spionage der NSA und anderer Geheimdienste zu dem Irrglauben führt, man könne dort tatsächlich ein Profil eines Menschen erstellen, das sich mit ihm als Person deckt.

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