Läuft bei uns: Chinas „Social Scoring“

Über den linken Traum, das chinesische Volk (und das eigene) durch Totalüberwachung umzuerziehen

Frohe Botschaften aus Beijing: Die Luft ist rein, die Menschen sind glücklich, die Armut ist besiegt und derzeit diskutieren freie Bürger munter über ein neues Sozialpunktesystem, auf das sich 80 % der Teilnehmer an einer Umfrage schon wahnsinnig freuen.

So und noch absurder wurde am 11.04.2019 in einer Bremer Kirchengemeinde das Social Scoring vorgestellt, das China ab 2020 landesweit einführen wird. Eingeladen hatte laut Gemeindeblatt das Bremer Friedensforum. Tatsächliche Veranstalter waren aber die Studiengruppe China Bremen und das Konfuzius-Institut Bremen sowie weitere sich politisch eher links verortende Gruppierungen.

Meine eigene Haltung zu solchen Überwachungssystemen gründet auf klarer Ablehnung, dennoch habe ich mich überzeugen lassen, mir die Argumente „pro“ wenigstens mal anzuhören: „Wir brauchen aus dem ‚Reich der Mitte‘ mehr solide Informationen und bei uns eine unvoreingenommene Diskussion!“, hieß es in der Ankündigung. Neugierig auf diese Informationen und eine unvoreingenommene Diskussion machte ich mich auf den Weg. Warum ich mich im Nachhinein schäme, an einem solchen Spektakel überhaupt teilgenommen zu haben, erfahrt ihr im folgenden Beitrag.

Zur Einführung ein wenig Eigenwerbung

Der Abend beginnt mit einer Einführung durch Professor Elsner, der zunächst sein eigenes Buch über China bewirbt.  Anschließend erfahren wir, dass der ideologische Krieg gegen China in vollem Gange sei und wir alle falsch informiert werden. Gut, dass ich hier bin, denke ich, endlich bekomme ich die richtigen Informationen. Naja, nicht wirklich. Aber ich gebe mir ernsthaft Mühe. Noch.

Was wir ebenfalls erfahren, ist, dass Professor Elsner morgens oft mit seinem Hund an der Weser spazieren geht und sich dann über die Jugendlichen ärgert, die dort Party machen und ihren Müll nicht mitnehmen. Er würde ihnen gern sagen (er tut es also nicht), dass sie bloß nichts mitnehmen sollen und dass unsere Weltmeere ja schon voll sind von Plastik. Sodann kurz die Referentin vorgestellt und das Mikrofon übergeben. Endlich.

Die große Verheißung: Daten, Fakten und eine unvoreingenommene Diskussion

Madeleine Genzsch, Betriebswirtin und Politökonomin, promoviert seit 2019 in Aachen, hat nach eigener Aussage lange in China gelebt und dort deutsche Unternehmen beraten. Sie präsentiert uns anfänglich ein paar Schlagzeilen, mit denen die deutsche und die internationale Presse das geplante Social Scoring ankündigen.

Während die westlichen Medien eine Bedrohung beschwören, so Genzsch, höre sie selbst von ihren Bekannten und ihren chinesischen Geschäftsfreunden nur Positives über das geplante Scoring. Einer Studie zufolge würden 80 % der Befragten dessen Einführung zustimmen.

Ihre Absicht sei es jedoch nicht, uns zu überzeugen oder für das Programm zu werben, sie wolle lediglich mit Fakten und Daten dazu beitragen, dass wir verstehen, warum Regierung und Bevölkerung das Punkteverfahren gut fänden und uns damit kulturelle Einsicht vermitteln. Schließlich sei alles immer eine Frage des Blickwinkels. Wie wahr!

Widersprüche statt Dialektik

Doch schon beim ersten Versuch, uns von westlicher Propaganda Geschädigten „kulturelle Einsicht“ zu vermitteln, verstrickt sich die Marketingexpertin in einen der Widersprüche, die den gesamten Vortrag durchziehen werden. Auf der einen Seite besteht sie darauf, dass es „DEN Chinesen“ nicht gebe, dafür sei das Land zu groß und die Bevölkerung zu heterogen. Auf der anderen Seite möchte sie erklären, wie „DER Chinese tickt“, was ihn vom Europäer unterscheidet. Eine Erklärung, wer eigentlich Chinese sei und wer nicht, bleibt sie schuldig.

Auch die versprochenen soliden Informationen, die Daten und Fakten bleiben aus. Denn, so lässt uns Frau Genzsch wissen, das Social-Credit-System gibt es noch gar nicht, weshalb sie dazu auch gar nichts Genaues sagen kann. Ich beginne mich veräppelt zu fühlen.

(Widersprüchlich auch ihre Kritik an jungen Menschen hüben wie drüben, die sich vor allem für Mode und die neuesten Handtaschen interessieren. Das erfahre ich allerdings erst im Nachhinein, als ich ihrer Website einen Besuch abstatte, auf der mir als Erstes ein Werbebanner von Benetton angezeigt wird.)

In einer Stunde durch zweieinhalb Jahrtausende

Statt uns mit Daten und Fakten zu versorgen, unternimmt Frau Genzsch dann einen sehr gewagten Streifzug durch die chinesische Geschichte. Die sei geprägt von der wichtigsten Säule des alten Kaiserreichs, dem Konfuzianismus, zu dessen wesentlichen Werten Mitmenschlichkeit, Tugendhaftigkeit und kindliche Pietät gehören. Diese guten alten Werte, darauf läuft es dann hinaus, wurden den Chinesen genommen. Wesentlich dazu beigetragen haben Mao und die Kulturrevolution, man habe damals aber nun mal unter dem Zwang gestanden, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.

(Ich kürze das Ganze etwas ab, ihr könnt bei Interesse den gesamten Vortrag auf dem YouTube-Kanal weltnetz-tv verfolgen.)

1978 kam dann die Reform, Materialismus und Kapitalismus hielten Einzug und damit zeigten sich bald auch die Schattenseiten des Wachstums, denn mit Blick auf die Ökologie des Landes ließ sich von kriegsähnlichen Zuständen sprechen, was viele Chinesen mit dem Leben bezahlten. Das musste sich natürlich ändern, denn: „Die Produktivkräfte sind nur produktiv, wenn sie sich in einer entsprechenden Umwelt entfalten können.“

Die Art und Weise, wie Frau Genzsch ihren Blick durch die chinesische Geschichte wandern lässt, ist schon erstaunlich. Erstaunlich naiv und in einer Sprache, die aufhorchen lässt. So lässt sie uns wissen, dass sie nicht von einem autoritären Staat sprechen wolle. Es handle sich um ein „zentral geführtes“ System, was in China Tradition habe. Der Staat stelle in diesem System nicht Recht und Ordnung her, sondern Werte und Moral.

Fehlentwicklungen durch egoistische Einzelkinder, die im Ausland studieren

Diese Moral aber, die sich in den alten konfuzianischen Werten ausdrücke, sei insbesondere den Kindern der in den 1960er Jahren geborenen Chinesen abhandengekommen, jener Generation also, die mit dem Großen Vorsitzenden aufgewachsen ist. Die Kinder der Kulturrevolution, zieht sie ihre eigenwilligen Denkkreise weiter, hätten lauter Einzelkinder erzogen, Egoisten, die noch dazu im Ausland studierten, wodurch es zu „Fehlentwicklungen“ gekommen sei.

Ich muss schon an dieser Stelle kräftig schlucken, aber die Dame, die „immer so viel spannende Dinge“ aus ihren Gesprächen in China mitnimmt, malt in einem drastischen Vergleich aus, wie es um diese egoistische Generation bestellt ist. Sie erinnert an einen Autofahrer, der ein Kind zweimal überfahren hat, aus Furcht, eine hohe Geldstrafe bezahlen zu müssen, sollte das Kind überleben.

Dass es solche Fälle gegeben hat und dass auch die Bereitschaft, Menschen in Notlagen zu helfen aufgrund des Misstrauens in die chinesische Rechtsprechung  abgenommen hat, ist unbestritten. Die Gründe dafür liegen im nicht funktionierenden chinesischen Rechtssystem. Das weiß auch Frau Genzsch. Allein es fehlt die gedankliche Kraft, darauf zu schließen, dass hier vielleicht Änderung nottäte, statt Milliarden Menschen der totalen Überwachung auszusetzen.

Wie ticken die Chinesen?

Aber wer sind diese Menschen nun und wie ticken sie? In guter alter maoistischer Tradition vergleicht Frau Genzsch die chinesische Mentalität mit der eines Fischschwarmes und – man fasst es nicht – als Illustration projiziert sie tatsächlich die Zeichnung eines Fischschwarms auf die Leinwand.

Nach diesem langen Vorspann kommt sie dann zum eigentlichen Thema des Abends, zu dem sie rein gar nichts Informatives oder gar Solides zu sagen hat. Irgendwas mit Big Data und Videoüberwachung und Gesichtserkennung sei da wohl geplant. Möglich sei auch, dass sich Informationen über die Social Media abrufen ließen, aber da es das Credit-System noch nicht gebe, werde darauf auch noch nicht zugegriffen.

Dabei bemüht sie selbst als ein Beispiel das Credit-System von Rongcheng, zu dem es gehört, dass Bürger, die sich erdreisten, „in den sozialen Medien ständig über die Missstände im Land zu schimpfen“, Punkte abgezogen bekommen. Aber das ist bestimmt wieder nur westliche Propaganda.

So richtig ins Schwärmen gerät sie dann über das in China derzeit populärste Scoringverfahren namens Sesame Credit, das von der Onlineplattform Alibaba betrieben wird. Auch die Bezahl-App „Ant Forest“, die von Ali Pay angeboten wird, gefällt ihr gut, weil die Nutzer hier virtuelle Bäume pflanzen können. Frau Genzsch sieht darin ein „Pendant zum deutschen PayPal“ (sic!).

Allerdings: Die Teilnahme an beiden Programmen ist freiwillig. Viele Chinesen begeistern sich dafür, denn bei Sesame Credit gibt es Punkte für „gute“ Bestellungen. Die Daten werden jedoch nicht nur von Alibaba gesammelt, das Unternehmen stellt sie auch Behörden und Banken zur Verfügung.

Eine Überwachung des gesamten öffentlichen Raums wie sie derzeit bereits die Uiguren erleben, digitale Armbänder und mit Mikrochips ausgestattete Schuluniformen kommen in ihrer Welt dagegen nicht vor.

Warum bin ich so zornig?

Frau Genzsch wollte das Verständnis für die chinesische Kultur fördern und auf westliche Propaganda mit Daten und Fakten antworten. Weder das eine noch das andere hat sie geleistet. Stattdessen hat sie ein Bild von „den Chinesen“ gezeichnet, die wie ein Fischschwarm durch die Weltgeschichte taumeln, sich nach einer zentralen Führung sehnen, nicht in der Lage sind, sich über komplexe Sachverhalte zu informieren und moralisch zu handeln.

Sie hat eine ganze Generation als egoistisch, individualistisch, hinterhältig, durchtrieben und frei von jeglichem Rechtsempfinden gegeißelt. Weder hat sie dargelegt, worin der Zusammenhang zu den alten konfuzianischen Traditionen besteht – denn der ist definitiv nicht gegeben. Noch konnte sie Fragen beantworten, wie genau das Social Scoring nun aussehen wird. Immerhin haben wir erfahren, dass die Chinesen jetzt nachts weniger hupen, sodass sie im Hotel besser schlafen kann.

Diskussionsbeiträge, die nicht überraschen

Und da soll man nicht zornig werden? Als die Diskussion eröffnet wird, fasst ein empörter Teilnehmer seinen Eindruck zusammen: Ein Modell, wie das skizzierte, führe zu nichts anderem als zu einer Gesellschaft von Arschkriechern, zu einem Staat, in dem nonkonformes Verhalten bestraft wird. Er kritisiert zudem, dass Frau Genzsch die Dinge beschönigt oder nicht beim Namen nennt.

Auch Herr Elsner muss Kritik aushalten. Ein anderer Teilnehmer stellt fest (sinngemäß wiedergegeben), er habe an diesem Abend zwar nichts über China gelernt, wohl aber über die Referenten und über uns. Denn es ist die maßlose Wut des moralisch erhabenen Bürgers, der morgens mit seinem Hund spazieren geht, die in ihm den Wunsch auslöst, dass doch einfach mal jemand die Kamera auf die bösen Jugendlichen halten möge, die ihren Müll nach durchzechter Nacht einfach liegen lassen.

Die Mär von der menschlichen Veredelung per Videoüberwachung, Gesichtserkennung, Spionage, Denunziantentum und Datenverwertung trifft dagegen den Nerv besorgter Alt-Linker. Wie lange reden wir in Deutschland schon über Umweltschutz und was hat sich geändert, fragt einer von ihnen. Um die Antwort gleich selbst zu geben: nichts.

Mal davon abgesehen, dass es sich um eine gewagte These handelt, frage ich mich an diesem Abend einmal mehr: Was hat eigentlich die Frage, wann ich das letzte Mal meine Eltern besucht habe oder wie viele Pornos ich konsumiere, mit Umweltschutz zu tun?

Dass es einigen der Teilnehmer an jeglichem Wissen darüber fehlt, was den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware, Überwachungstechnologien im öffentlichen Raum, dem Ausspionieren der Social-Media und der Nutzung einer darauf programmierten KI von anderen Formen der Sammelwut unterscheidet, wurde ebenfalls deutlich.

In Äußerungen wie „ich lasse mir meine persönliche Freiheit nicht nehmen, deshalb habe ich so eine Karte nicht“ (gemeint war wohl ein Smartphone mit SIM-Card) oder „bei uns bekommen die Studenten auch Credit Points an der Uni“. Die Referentin nahm solche Äußerungen zur Kenntnis. Warum auch hätte sie den Anwesenden erklären sollen, dass die totale Überwachung jeden erfasst, völlig gleichgültig, wann er sich wo mit welchen Geräten ausstattet oder nicht.

Konfuzius und Jürgen sprechen, nur ich darf nicht

Wie die neuen Werte des Konfuzius sich auswirken können, darauf bekam ich dann noch einen winzigen persönlichen Vorgeschmack. Ich hatte mich schon früh zu Wort gemeldet, der Moderator hatte dies auch zur Kenntnis genommen. Nun bin ich ein sehr impulsiver Mensch und es war zu befürchten, dass ich mich nicht wirklich freundlich, gesittet und pietätsvoll äußern würde. Es geschah, was geschehen musste: Ich wurde beflissentlich übersehen. Als die Rednerliste dann geschlossen werden sollte, meldete ich mich ein weiteres Mal, wies darauf hin, dass ich eigentlich schon draufstehen müsste. Ich wurde wieder übersehen, denn es waren noch ein paar Fische aus dem Schwarm zu bevorzugen. Nach deren Redebeiträgen wurde die Diskussion durch den Schwarmführer dann abrupt beendet.

Worüber ich gern gesprochen hätte: verzweifelte Einzelkinder und die Geschichte vom Axtdieb

Dabei hatte ich gar nicht vor, meiner Wut Ausdruck zu verleihen. Ich hatte nämlich selbst etwas „ganz Spannendes“ mitgebracht. Eine Geschichte aus China, die ich einst mit meinen Studenten im Deutschunterricht besprach. Studenten, die genau jener Generation angehören, die aus Frau Genzsch Sicht keine Moral kennt und aus lauter egoistischen Einzelkindern besteht. Es ist die Lao-Tse zugeschriebene Geschichte vom Axtdieb und die geht so:


Der Axtdieb

Ein Mann fand eines Tages seine Axt nicht mehr. Er suchte und suchte, aber sie blieb verschwunden. Er wurde ärgerlich und verdächtigte den Sohn seines Nachbarn, die Axt gestohlen zu haben.

Er beobachtete den Sohn seines Nachbarn ganz genau. Und tatsächlich: Der Gang des Jungen war der Gang eines Axtdiebes. Die Worte, die er sprach, waren die Worte eines Axtdiebes. Sein ganzes Wesen und sein Verhalten glichen dem eines Axtdiebes.

Am Abend fand der Mann seine Axt zufällig wieder.

Am nächsten Morgen sah er den Sohn seines Nachbarn erneut. Sein Gang war nicht der eines Axtdiebes. Seine Worte waren nicht die eines Axtdiebes und auch sein Verhalten hatte nichts mehr von einem Axtdieb.

Als ich mit meinen chinesischen Sprachstudenten diese Geschichte im Unterricht behandelte, beteiligte sich einer von ihnen besonders eifrig an der Diskussion. Ich mochte diesen Studenten auch besonders – er war höflich, humorvoll, intelligent, aufmerksam. Doch ich bemerkte, dass die anderen Studenten mit Unmut auf ihn reagierten. Nach der Stunde versuchte ich, in Einzelgesprächen herauszufinden, was los war. Ich erfuhr, dass die Studenten ihren Mitschüler verdächtigten, ein Spitzel zu sein.

Ich konnte das nicht glauben, weiß bis heute nicht, ob sie recht hatten. Aber ich erfuhr nicht zum ersten Mal, unter wie vielen Nöten und Ängsten diese „egoistischen Einzelkinder“ zu leiden hatten. Und allein die Tatsache, dass sie in meinem Land mit der Angst leben mussten, dass einer von ihnen ein Spitzel sein könnte, war schlimm genug.

Wie es sich wohl auswirken wird, wenn eine ganze Gesellschaft dem Generalverdacht unterstellt wird, Axtdieb zu sein?

Der menschliche Blick konstituiert den Dieb, der technologische den irrational Verdächtigten

Die Geschichte vom Axtdieb lehrt aber noch ein Weiteres. Es ist der Blick des Beobachters, der das Subjekt konstituiert. Der menschliche Blick erkennt, was er aus subjektiver und kollektiver Erfahrung zu sehen vermutet. Der technologische Blick entsteht aus Metadaten und Konzepten, von denen vorgegeben wird, sie seien objektiv und rational. Das ist er nicht. Ohne diese Konzepte und Metadaten, die ihm von Menschen vorgegeben werden, findet er weder Muster noch Strukturen noch kann er etwas prognostizieren.

Was ich an diesem Abend gelernt habe, ist, dass sich gerade ein historisch einmaliger Zusammenschluss zwischen besorgten linken Bürgern und den Interessen westlicher Konzerne ereignet. Diese würden sich nach einem Social Scoring, wie es in China eingeführt wird, die Finger lecken. Drohte doch beispielsweise Janina Kugel, Vorständin von Siemens, vor wenigen Tagen erst wieder, wenn der Arbeitnehmerschutz in Deutschland nicht weiter gelockert werde, werde man eben „woanders investieren“. 

Wovor Konfuzius heute warnen würde: Der Mensch kennt dreierlei Wege, andere zu unterwerfen; erstens durch Kontrolle, das ist der offensichtlichste, zweitens durch Ausbeutung, das ist der leichteste, und drittens durch den Ausverkauf von Mitmenschlichkeit, das ist er bitterste.

Kontrolle und moderne Formen der Ausbeutung sind zwei Faktoren, die das Social Scoring motivieren. Was es gleichzeitig leistet, ist, dass moralisches Handeln zum Handelsgut, zum Gegenstand von Feilschern wird. Mitmenschlichkeit wird käuflich, wenn man sie gegen Punkte eintauschen kann.

Wenn das Köstlichste zum Schlimmsten mutiert, dann geschieht dies zu oft in unseren Kirchen

Der lange Jahre in Bremen lehrende und mit dem Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon ausgezeichnete Philosoph und Theologe Ivan Illich prägte die Phrase von der „corruptio optimi quae est pessima“, was frei übersetzt bedeutet: Die Verderbnis des Besten verkehrt dieses zum Schlimmsten.

Genau dies geschieht durch ein solches Scoring – in China ebenso wie bei uns. Schließlich finden sich die Sinn- und Motivationssprüche, zu denen die Aussagen eines Konfuzius‘ verkommen sind, auch in jedem modernen Unternehmen an die Wand gezimmert. Denn nicht Disziplinierung heißt das Gebot der Stunde, sondern ein beständiger „Leistungsimperativ“ (Han, zitiert nach Kastner).

Wie sagte Frau Genzsch? „Die Produktivkräfte sind nur produktiv, wenn sie sich in einer entsprechenden Umwelt entfalten können.“ Richtig, und noch dazu müssen sie alles Erdenkliche dafür tun, sich beständig selbst zu optimieren, gesund zu erhalten, zu disziplinieren und bis in den letzten Winkel ihres Herzens aufrichtig davon überzeugt sein, dass ihr Leben darin besteht, dem Wohle aller zu dienen. Der Blick, der sie dabei beobachtet, gleicht dem des Großinquisitors. Wer nicht zum Fisch mutiert, wird abgestraft.

Dass hierfür in einer deutschen evangelischen Kirche geworben werden kann, in der man in gut 10 Tagen Ostern feiern wird, dafür schäme ich mich. Und ich denke, auch der, dessen Auferstehung hier gefeiert wird, hätte nicht an der Seite von Frau Genzsch und deren Geschäftsfreunden gestanden, sondern an der Seite all derer, die zu den Verlierern dieses Systems gehören und gehören werden. An der Seite der Wanderarbeiter zum Beispiel, die aus ihren erbärmlichen Unterkünften am Stadtrand von Peking verschwinden mussten, damit die Luft rein und die Armut besiegt ist.

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