Fortschritt oder mobiler Griff ins Klo? M-WC in Barcelona 2016

Die Menge tobt, es lebe der Fortschritt. Irgendjemand setzt sich eine dieser Brillen auf, mit denen man sich nicht nur zum Idioten macht, sondern auch noch wie einer aussieht. Und was geschieht? O Wunder: „Wenn ich mit dem Kopf nach oben gehe, sehe ich wirklich, was über mir ist. Oder nach unten, nach links, nach rechts, hinter mir!”[i]

Das ist mir im echten (ach nee, das darf man ja so nicht abgrenzen), also im unvermittelt erlebten Raum ja noch nie passiert! Aber noch besser ist natürlich: „Jede Kopfbewegung wird wahrgenommen.“

Klar, und nicht nur die. Und nicht nur von dir.

Heute schon dein Schrittpensum erfüllt?

Heimliches Zettelchen mit der unverblümten Frage, ob du mit mir gehen willst, war gestern. Heute interessieren die genauen Daten:

Wie viele Schritte gehst du und mit wem? Wie viele ungesättigte Fettsäuren hast du heute zu dir genommen und wie viele Vitamine? Hast du Besuch? Hast du regelmäßig geschützten Sex? Gehst du nachts heimlich an den Kühlschrank? Wann stehst du morgens auf? Hast du deine Pillen genommen? Hast du deine Gymnastik gemacht, dein Morgengebet gesprochen, deine Mantras gemurmelt? Denk bitte an deinen Blutdruck! Und an deine Darmflora! Und setz die Mütze auf, es ist kalt draußen!

Das neue Wohlgefühl: Wir sind für dich da. Immer und überall.

Kontrolle, die nicht als solche empfunden werden soll, gibt sich gern als Fürsorge aus. Soeben Muttis Warnungen entflohen, begibt man sich in die vernetzte Welt von Ratgebern, Medizinern, Coaches, Optimierern, Bank-, Ernährungs- und Erziehungsberatern. Dein Leben, deine Performance! Oder doch lieber ein Adventure auf dem Sofa? Zeig uns, was in dir steckt!

Sei frei und dabei: heillose Inquisition als freiwillige Nabelschau

Fürsorge oder just for fun – Hauptsache, wir teilen uns freiwillig mit. Und nicht einmal mitteilen musst du dich der Welt noch selbst. Das smarte Home erledigt dies für dich. Dabei ging doch gestern noch ein Aufschrei durch die Welt, Hilfe, wir werden bespitzelt! Die böse NSA ist uns auf den Fersen. Wer hätte auch gedacht, dass sich ein Abfallprodukt der Militärforschung, das Web, als betreuter Freigang inmitten eines riesigen Knastes erweisen könnte?

Freies Surfen für freie Bürger? Schwamm drüber, sei es drum. Heute gehen wir noch einen Schritt weiter und noch einen. Elektronische Fußfessel? Brauchen wir nicht mehr, deine Smartwatch sagt uns, wo du bist. Sensorische Deprivation? Quark, wir machen uns unsere Halluzinationen selbst, alles im richtigen Maß. Du bestimmst die Dosis.

Erst machen, dann denken

Wozu man den ganzen Mist wirklich braucht, der in Barcelona auf dem mobilen WC präsentiert und zeitnah wie zielorientiert zu neuem Technikmüll produziert wird? Der Reporter weiß es nicht. Aber: „Erst mal machen“, lautet die Devise. Das MIT könnte vielleicht Auskunft geben, eine jener Elite-Unis, an denen ein immer waches Völkchen mit viel Ehrgeiz und Koffein Militärforschung in einen Menschheitssegen verwandelt.

Weltsensation: mit Oma und Zuckerberg Ultraschallbildchen tauschen

Gestern war es die Konserve, die wir als Abfallprodukt der Rüstungsindustrie dankbar annahmen. Heute ist es halt das Funkhaus, das sogar noch die Analyse deiner Stuhlprobe ungefragt zum Doc schickt. Aber erst mal machen. Und sie hat ja auch was Gutes, die ganze neue Technologie: „So kann die Oma virtuell mit dabei sein, wenn das Kind gerade geboren wurde – und zwar per Facebook.“

Ja klar, die Oma hat da genauso wie Zuckerberg gerade noch gefehlt. Möchte noch jemand dabei sein? Aber Menschen, die nicht einmal mehr den Bauch einer Schwangeren als geschützten Ort verstehen, an dem ein Ankömmling in Ruhe und ohne tosenden Applaus werden darf, was er einmal sein könnte, finden es ja schon lange normal, kleine Ultraschallbilder, auf denen nichts zu sehen ist, als emotionales Highlight am Kaffeetisch zu kredenzen. Oder soll es lieber die Panorama-Aufnahme deines letzten Darmverschlusses sein?

Was ist der Mensch? Selfies vom Kotfass

 „Was ist der Mensch?“, ließ Johannes von Tepl den Tod den Ackermann einst fragen. Die Antwort fiel wenig schmeichelhaft aus.

„… ein beschmierter Bienenstock, ein ausgemachtes Drecksstück, ein schmutziges Triebwesen, ein Kotfaß, eine verdorbene Speise, ein Stinkhaus, ein ekliger Spülzuber, ein fauliges Aas, ein Schimmelkasten, ein bodenloser Sack, eine löchrige Tasche, ein Blasebalg, ein Gierschlund, ein sinkender Lehmtiegel, ein übelriechender Harnkrug, ein übelduftender Eimer, eine trügerische Totenlarve, eine lehmige Räuberhöhle, ein unersättlicher Löschkrug und geschminkte Trübsal.“

Kurz: eine stinkende, zum Sterben verurteile Kreatur. Der menschliche Wunsch nach Fortschritt bestand einmal darin, dieses Kotfass in ein halbwegs erträgliches Wesen zu verwandeln und ihm ein Leben zu ermöglichen, das minne- und wundersam ist. Aber was nach oben steigt, fällt irgendwann wieder herab. Wenn du immer weiter nach links gehst, dann landest du rechts. Und je smarter du wirst, desto tumber bist du irgendwann. Vergiss in keinem Fall, ein Selfie davon zu machen. Die neue Akkulaufzeit gibt dir ausreichend Gelegenheit dazu.

Aber niemand zwingt dich doch …

Ja, bla, ich weiß, dieses Argument wird kommen. Gegenfragen: Schon mal versucht, ein Buch auszuleihen ohne elektronischen Bibliotheksausweis? Schon mal versucht, einem Vierzehnjährigen zu erklären, was Intimsphäre ist? Schon mal wahrgenommen, wer alles versucht, in deinen Kühlschrank zu spähen?

Neue Technologien verändern nicht nur das Leben derer, die sie benutzen, sie verändern auch das Leben derer, die sie nicht nutzen wollen. Technologien sind nicht demokratisch, sondern totalitär. Sie besetzen den privaten Raum ebenso wie den öffentlichen. Sie besetzen unsere Art zu denken, zu träumen, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Sie werden zu Metaphern, die dich und mich beschreiben. Oder seit wann ist dein Hirn eine Festplatte?


 

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