Heute hier, morgen dort: die Zeitformen des Verbs
Die deutsche Sprache kennt sechs Zeitformen, die es uns ermöglichen, durch die Vergangenheit zu reisen oder einen Blick in die Zukunft zu werfen, und zwar ganz ohne Kristallkugel oder Zeitmaschine. Stattdessen nehmen wir ein paar kleine Änderungen am Verb vor und zack! sind wir dort, wo wir gerade hinwollten.
Doch schon das Bild der Zeitreise zeigt, wie eng Zeit und Raum miteinander verwoben sind. Die Reise selbst findet in einem mentalen Raum statt, der es uns erlaubt, vorauszuschauen oder zurückzublicken. Und dieser mentale Raum entsteht durch die Sprache, die wir sprechen und in der wir die Welt ordnen.
Die deutsche Sprache umfasst viele Begriffe, in denen die Verbindung von Zeit und Raum deutlich wird, häufig sind dies Adverbien oder Präpositionen. Denn beide Wortarten helfen uns, Raum und Zeit zu lokalisieren: Wir befinden uns beispielsweise in Eile oder in einem Raum, vor der Prüfung oder vor dem Prüfungsraum. Und wir treffen uns „um“ 18:00 Uhr in der Kneipe um die Ecke.
Zeit und Raum ermöglichen und begrenzen unser Sein und unser Werden. Daher ist es nicht erstaunlich, dass sie auch in den Tempusformen des Verbs eine besondere Verbindung eingehen. In diesem Kapitel schauen wir uns das an der Bildung der Zeitform „Perfekt“ im Deutschen mal genauer an.
Vergangen, aber nicht vergessen: das Perfekt
„Ich habe ihm gesagt, dass er nach rechts fahren soll, aber er ist natürlich nach links gefahren und dann ist uns ein Lkw entgegengekommen und er hat noch versucht, auszuweichen, aber es war schon zu spät, denn er hat nicht gesehen, dass da von der anderen Seite auch noch eine Straßenbahn kam und ist mittenrein gekracht. Im Krankenhaus musste er dann operiert werden, aber das hat nicht wehgetan, weil er ja betäubt war. Nur dass er den Verband jetzt so lange tragen muss, hat ihn geärgert.“
Das Perfekt ist eine zusammengesetzte Zeitform, in der wir von Ereignissen aus der Vergangenheit erzählen. Im Unterschied zum Präteritum ist das Perfekt überwiegend, aber nicht ausschließlich, die Form des mündlichen Erzählens. Das Perfekt deutet innere Beteiligung an, fügt dem Geschehen eine gewisse Dynamik hinzu. Denn das Vergangene liegt zwar schon hinter uns, wir haben es aber noch deutlich vor Augen oder spüren die Folgen noch jetzt. Es wirkt auf irgendeine Form noch nach. Rein formal bewegen wir uns mit dem Perfekt also in Zeit und Raum zurück. Praktisch holen wir die Vergangenheit damit aber in die Gegenwart hinein.
Doch nicht nur in der mündlichen Erzählung kommt das Perfekt vor, auch im Schriftlichen kann es den engen Bezug signalisieren, der zwischen einem Ereignis in der Vergangenheit und der Gegenwart besteht. Falls du also noch gelernt hast, dass das Perfekt eine Tempusform ist, die nur für die – als schmuddelig gedachte – Umgangssprache taugt, wogegen das Präteritum die ganze Pracht und Schönheit der Schriftsprache ziert: Vergiss diese Irrlehre.
Solltest du beispielsweise gerade eine Bewerbung schreiben, ergänze deinen Lebenslauf auf keinen Fall um die hochtrabende Angabe: Ich studierte in New York Englisch, Französisch und Spanisch. Sondern hol dein Wissen und Können in die Gegenwart: Ich habe in New York Englisch, Französisch und Spanisch studiert. Deshalb bin ich auf den Job bestens vorbereitet.
Sollte ich kurz zusammenfassen, was das Perfekt vom Präteritum unterscheidet, würde ich sagen: Das Perfekt benennt, dass etwas geschehen ist. Es fasst die Vergangenheit mit Blick auf die Gegenwart oder auf das (anhaltende) Resultat zusammen. Besonders deutlich wird dies, wenn das Ereignis, von dem wir erzählen, noch andauert oder zu einem neuen Zustand geführt hat: Das Baby ist vor einer halben Stunde endlich eingeschlafen (und schläft immer noch, juchhu). Die Kranke ist nach der OP schnell genesen. Ich habe heute noch nichts gegessen (deshalb knurrt mir jetzt der Magen).
Das Präteritum erzählt, wie und wann etwas geschah. Es stellt die Vergangenheit als eine in sich abgeschlossene Episode dar.
Wie bildet man das Perfekt?
Um perfekt von der Vergangenheit sprechen zu können, benötigst Du zwei Zutaten: die Hilfsverben haben oder sein und das Partizip II des Verbs. Zunächst musst du also wissen:
1. Wann benutzt man haben und wann benutzt man sein, um das Perfekt zu bilden?
2. Wie bildet man ein Partizip II?
1. Haben oder sein?
Wie der kleine Unfall-Text oben zeigt, kommt in einer Erzählung selten nur eine einzige Zeitform vor. Und gerade die Hilfsverben haben und sein werden dort, wo sie für sich allein (als Vollverben) stehen, meist im Präteritum benutzt: Ich war abends noch lange unterwegs (statt: bin gewesen). Ich hatte keine Zeit (statt: habe gehabt).
Das Perfekt anderer Verben wird in der Mehrzahl der Fälle mit haben gebildet:
Ich habe einen Apfel gegessen. Du hast Musik gehört. Wir haben den Abwasch erledigt. Sie hat ihm zugehört. Er hat ihr verziehen. Wir haben der Opfer gedacht.
Haben als Brückenbauer zum Objekt
Warum benutzt man hier haben als Hilfsverb und nicht sein? Wenn du dir die Beispiele genauer anschaust, entdeckst du: Alle genannten Handlungen wurden an einem oder mit einem Objekt vollzogen. Verben, die ein solches Geschehen ausdrücken, nennt man transitive Verben.[1]
Transitive Verben bauen eine Brücke vom Subjekt zum Objekt und verschieben damit den Blickwinkel: Wichtig ist nicht nur, dass ich gegessen oder zugehört habe. Sondern auch, was ich gegessen, wem ich zugehört oder wessen ich gedacht habe.
Aus genau diesem Grund könnten wir aus den Beispielsätzen auch Passivsätze formen, in denen das Objekt zum Subjekt wird: Der Apfel ist gegessen worden. Musik ist gehört worden. Der Abwasch ist erledigt worden. Der Opfer ist gedacht worden.
Transitive Verben können, müssen aber kein Objekt bei sich führen, oft denken wir das Objekt einfach stumm mit: Ich habe schon (etwas) gegessen. Ich habe (dir) gut zugehört. Entscheidend für das Merkmal „transitiv“ ist hier also nicht, ob das Objekt wirklich im Satz erscheint, sondern dass es dort erscheinen könnte. Dabei kann das Objekt auch das Subjekt selbst sein, wie es bei reflexiven Verben der Fall ist: Ich habe mich sehr darüber gefreut. Von reflexiven Verben können wir allerdings kein Passiv bilden – aber dazu später mehr.
Andere Verben, die das Perfekt mit haben bilden
Neben transitiven und reflexiven Verben gibt es weitere Verbgruppen, die das Perfekt mit haben bilden. Dazu gehören alle Verben, die auf -ieren enden: studiert haben, fantasiert haben, probiert haben. Viele dieser Verben sind zudem transitiv (oder waren es mal). Und auch die Modalverben und weitere dort behandelte Verben bilden das Perfekt mit haben: Ich habe gekonnt, du hast etwas gebraucht, er hat das gewusst, sie hat es gesehen. (Zum Unterschied zwischen “habe … können” und “habe gekonnt”: siehe den Abschnitt unten über die Bildung des Partizips.)
Eigentlich einfach, oder? Wenn wir etwas haben, erscheint dies ja schließlich auch als Objekt: Ich habe einen Hund, du hast Geld, er hat niemanden.
Tja, und nun atmen wir mal tief durch. Denn leider gibt es auch einige intransitive Verben, die das Perfekt mit haben bilden: blühen oder schlafen, rosten oder brennen beispielsweise. Das sind Verben, die einen Vorgang benennen, dem eine gewisse, aber nicht genau definierte Dauer zukommt.
Was das bedeutet, wird klar, wenn du dir folgende Beispiele anguckst:
Die Blume ist erblüht. (erblühen)
Die Blume hat geblüht. (blühen)
Die Blume ist verblüht. (verblühen)
Das Kind ist eingeschlafen. (einschlafen)
Das Kind hat geschlafen. (schlafen)
Das Kind ist erwacht/aufgewacht. (erwachen, aufwachen)
Das Eisen hat gerostet. (rosten)
Das Eisen ist verrostet. (verrosten)
Das Holz hat gebrannt. (brennen)
Das Holz ist verbrannt. (verbrennen)
Hier erkennst du, dass bestimmte Vorsilben die Bedeutung eines Wortes verändern. Er– markiert einen Übergang, den Beginn der Blüte. Ver– markiert den Verfall, das Ende einer Handlung. Entscheidend ist hier also, dass man mit dem Wechsel zwischen haben und sein auch den Wechsel zwischen Veränderung und Dauer oder Resultat markiert. Auffällig ist auch: Wenn ich sage “sie hat geschlafen” sage, ist der Vorgang, um den es geht, bereits beendet. Sie hat geschlafen, nun ist sie wieder wach. Wenn ich “sie ist aufgewacht” sage, hält der Zustand noch an.
Besonders deutlich wird dies am Beispiel “rosten”. Denn Rosten ist eigentlich ein Vorgang, der keine Ende in sich selbst findet. Wenn das Eisen erst mal rostet, dann geht das ewig so weiter. Es kann anfangen zu rosten, aber es kann nicht er-rosten oder aufrosten. Doch irgendwann ist ein neuer Zustand erreicht und das Eisen ist unbrauchbar geworden, da komplett verrostet. Und einen solchen neuen Zustand beschreiben wir mit dem Verb sein.
Also kommen wir nun zum Sein, das sich dem Perfekt zufolge in einem beständigen Wandel befindet.
Das Perfekt mit sein
Ich bin gegangen. Du bist geblieben. Die Blume ist verwelkt. Sie ist Polizistin geworden.
Das Perfekt mit haben beschreibt Handlungen, zu denen wir uns ein Objekt denken, sowie reflexive Handlungen, Geschehnisse, die von unbestimmter Dauer sind. Das Perfekt mit sein spricht vom Subjekt selbst und gibt Auskunft über eine Änderung, eine Bewegung oder darüber, dass ein neuer Zustand erreicht ist. Mit einer Ausnahme: Wir bleiben immer, wer wir sind. Und wir bilden daher auch das Perfekt von bleiben mit sein.
Verben, die das Perfekt mit sein bilden, sind daher meistens intransitive Verben, also solche, die kein Objekt regieren. Das haben sie mit dem Verb sein gemeinsam. Von diesen Verben kannst du daher auch kein Passiv bilden. Denn du kannst gehen, aber nicht gegangen werden, werden, aber nicht geworden werden, sein, aber nicht gewesen werden. Und die Blume kann erblühen, aber nicht erblüht werden.
Verben, die transitiv oder intransitiv gebraucht werden
Fahren gehört zu den Verben, die transitiv oder intransitiv verwendet werden:
Ich habe das Auto gefahren. –> Die Handlung benennt ein Objekt, daher wird das Perfekt mit haben gebildet. Hier kannst du auch das Passiv bilden: Das Auto ist gefahren worden. Die Aufmerksamkeit liegt also nicht auf dem Vorgang, sondern auf dem Objekt.
Ich bin mit dem Auto gefahren. –> Die Handlung beschreibt eine Bewegung von A nach B. Das Auto ist hier kein Objekt, auf das ich eingewirkt habe, sondern ein Mittel zum Zweck. Daher wird das Perfekt mit sein gebildet. Eine Passivbildung ist nicht möglich. Denn der Satz „ich bin gefahren worden“ setzte voraus, dass eine andere Person gefahren ist.
Diese Regeln gelten auch für die gute alte Frage, die ich oben schon erwähnt habe: Bist du oder hast du geschwommen? Schwimmen ist ein intransitives Verb der Bewegung. Du kannst nicht geschwommen werden. Gleiches gilt für klettern, joggen, fliegen. Du bist geklettert, gejoggt, geflogen. Dennoch verwenden viele Sprecher das Perfekt mit haben, wenn die Bewegung ungerichtet oder von unbestimmter Dauer war.
Auch hier kannst du mit bestimmten Vorsilben wieder etwas bewirken. Wenn du beispielsweise durch den See geschwommen bist, dann hast du ihn durchschwommen. Und wenn du auf die Bergspitze geklettert bist, dann hast du den Gipfel erklommen. Du siehst: Hier drängt sich wieder das Objekt in den Vordergrund. Deshalb wird das Perfekt mit haben gebildet.
Und auch regionale Unterschiede machen sich hier bemerkbar. Denn wenn es in diesem Land ein Nord-Süd-Gefälle gibt, dann beim Sitzen, Liegen oder Stehen. Eigentlich sind das intransitive Verben. Aber während man in Süddeutschland gesessen, gestanden oder gelegen ist, hat der Norddeutsche dies getan. Möglicherweise, weil Norddeutsche ein wenig träger und distanzierter sind als Süddeutsche. Wenn wir uns schon niederlassen, dann bleiben wir auch eine Weile. 😉
Ausnahmen, die keine sind
Viele Grammatiken benennen an dieser Stelle Ausnahmen, die du dir nicht weiter einprägen musst, wenn du dir eine Regel an erster Stelle merkst: Sobald ein Verb transitiv genutzt werden kann, bildet man das Perfekt mit haben.
Beispiele für Verben der Bewegung:
Ich habe das Auto gefahren. Ich habe das Flugzeug geflogen. Ich habe den Berg erklommen.
Aber: Ich bin gefahren. Ich bin geflogen. Ich bin auf den Berg gestiegen.
Häufig verwechselt wird diese Unterscheidung von transitiv/intransitiv mit Phrasen, die einen Vorgang oder einen Zustand benennen:
Ich habe das Glas zerbrochen. Das Glas ist zerbrochen.
Zerbrechen ist als Verb immer transitiv – das zeigt sich schon an der Vorsilbe zer-, die geradezu nach einem Objekt dürstet, das sie zerschmettern, zerlegen oder zerteilen kann. Das Perfekt wird daher mit haben gebildet. Die Aussage „Das Glas ist zerbrochen“ bildet keine Tempusform ab, sondern einen Zustand, der aus dem Vorgang folgt: Jemand hat das Glas zerbrochen. Deshalb ist das Glas jetzt zerbrochen.
Das Glas hat also keinesfalls mit aller Kraft versucht, zu zerbrechen. Es ist – sehr wahrscheinlich – zerbrochen worden. Auch wenn alle unschuldig gucken und eine passive Zustandsbeschreibung verwenden, als wäre nichts geschehen. Ähnlich verhält es sich zum Beispiel bei:
Ich habe den Ast abgesägt, abgeknickt, abgehauen. Jetzt ist der Ast abgesägt, abgeknickt, abgehauen.
Aufpassen musst du auch bei Wörtern, die wie Zwillinge ausschauen, aber völlig unterschiedliche Bedeutungen haben (Homonyme):
Der Sänger tritt auf der städtischen Bühne auf. Er ist aufgetreten.
Der Sänger tritt die Tür auf. Er hat die Tür aufgetreten.
Auch hier handelt es sich nicht um wirkliche Ausnahmen. Denn ob man an einem Ort auftritt oder etwas auftritt macht doch schon einen bedeutenden Unterschied aus, oder?
Fazit
Halten wir grundlegend fest: Das Perfekt mit haben bildet eine Brücke vom Verb zu einem Objekt. Die Handlung bezieht sich auf ein Etwas oder wendet sich an eine Person, das/die aber nicht zwingend genannt sein muss (ich habe gegessen). Haben stellt die Verbindung her. Haben beschreibt, dass wir etwas aktiv bewirkt, erlebt, gestaltet, erfahren haben. Weitere Verben, die das Perfekt mit haben bilden, sind alle Verben auf –ieren, reflexive Verben sowie intransitive Verben, die einen Vorgang von unbestimmter Dauer benennen. Last but not least natürlich das Verb haben selbst.
Das Perfekt mit sein bilden intransitive Verben des Bewegens oder Verweilens oder Bleibens und der Zustandsveränderung des Subjektes. Sein beschreibt, was sich für das Subjekt geändert oder wie sich das Subjekt verändert hat: Sie ist gefahren, geblieben, verblüht, erwacht.
In der Wahl von sein oder haben drückt sich also nicht nur grammatische Willkür aus. Was wir sind, befindet sich im ständigen Wandel von Werden und Vergehen, Präsenz und Abwesenheit. Unser Sein ist wandelbar, aber unveräußerlich; es ist das, was bleibt.
Was wir haben, bleibt dagegen immer ein wenig außen vor: Wir wirken darauf ein, können es verändern oder zerstören, für unbestimmte Zeit besitzen oder verlieren. Nichts zeigt dies so deutlich wie unser Verhältnis zur Freiheit: Denn solange wir nur Freiheiten haben, kann man uns diese wieder nehmen. Niemand dagegen kann uns daran hindern, innerlich frei zu sein.
[ÜBUNGEN]
Uff. Ich hoffe, ich habe dich mit diesen langen Ausführungen nicht durcheinandergebracht. Natürlich ist Grammatik letztlich immer ein Regelwerk, das Sprache nur von außen beleuchten kann. Aber wenn man ihr inneres Licht einmal leuchten gesehen hat, dann macht es doch noch mal so viel Spaß, sie zu erlernen, oder?
Hast du den Unterschied zwischen haben und sein erst einmal verstanden, geht es in Riesenschritten zum zweiten Baustein, den du für das Perfekt benötigst: das Partizip Perfekt, auch als Partizip II bezeichnet: gegessen, getrunken, erwacht, vorgelesen, trainiert.
2. Das Partizip Perfekt
Der Begriff „Partizip“ bedeutet so viel wie „Teilhabe“. Darin drückt sich aus, dass ein Partizip an verschiedenen sprachlichen Phänomenen teilhat. Das Partizip II beispielsweise verwenden wir, um Tempusformen wie das Perfekt zu bilden: Sie haben mich gefangen. Ich bin geflüchtet.
Wir können es aber auch nutzen, um eine aktive Aussage ins Passiv zu verwandeln: Ich wurde gefangen. Wir können einen Zustand daraus ableiten: Ich bin gefangen. Und wir können diesen Ausdruck als Attribut verwenden: Sie haben den gefangenen Soldaten ins Lager gebracht. Kurz auch: Sie haben den Gefangenen ins Lager gebracht. Wir beschreiben dann mit einem Partizip der Vergangenheit die Gegenwart. Und wie wir später noch sehen werden, sogar die Zukunft. Weil Zeit eben viel mehr ist als das, was die Uhr zeigt.
Also schauen wir uns nun an, wie das Partizip Perfekt gebildet wird.
Wie bildet man das Partizip II?
lesen: gelesen, leben: gelebt, nehmen: genommen, vorlesen: vorgelesen, vormachen: vorgemacht, erleben: erlebt, verstehen: verstanden, befehlen: befohlen, bekommen: bekommen, studieren: studiert, tun: getan, sein: gewesen, haben: gehabt, werden: geworden
Die Beispiele zeigen den ganzen Formenbestand des Partizip II im Deutschen. Wenn du dir die Unterschiede anschaust, merkst du, was du alles wissen musst, um das Partizip II bilden zu können:
- Erhält das Verb im Partizip die Silbe ge? (gegessen)
- Steht ge- am Wortanfang (gelesen) oder tritt es zwischen trennbare Vorsilbe und Stamm des Verbs? (vorgelesen)
- Endet das Verb im Partizip II auf -en oder auf -t?
- Tritt ein Vokalwechsel auf? (nehmen: genommen)
Ganz schön chaotisch, oder? Also versuchen wir wieder, die Dinge zu sortieren.
Partizip Perfekt mit oder ohne ge-?
Viele deutsche Vorsilben haben eine oder mehrere eigene Bedeutungen, die heute kaum noch jemand kennt. Das gilt auch für die Vorsilbe ge-. Im Partizip II ist die Bedeutung von ge– in etwa: Etwas ist erledigt, zum Abschluss gekommen. Eigentlich logisch, denn es geht hier ja um die Vergangenheit. Aber warum bekommen dann nicht einfach alle Verben diese Vorsilbe am Partizip II und gut ist?
Die Antwort ist ebenso logisch: „Ge-“ entfällt bei Verben, die bereits eine untrennbare Vorsilbe haben. Denn diese untrennbare Vorsilbe hat ebenfalls eine eigene Bedeutung, die das Verb in seiner Aussage nuanciert. Wir haben das oben schon bei blühen, erblühen, verblühen behandelt. Die Verben benennen unterschiedliche Vorgänge bzw. Zustände:
Vorsilbe und Bedeutung sind untrennbar mit dem Verb verbunden. Sie zeigen bereits eine Veränderung an. Es reicht also, ein Hilfsverb hinzuzufügen: Sie ist erblüht.
Langer Rede kurze Regel: Verben mit untrennbarer Vorsilbe erhalten im Partizip Perfekt kein Präfix ge-.
Untrennbare Vorsilben sind: be-, de-, des-, dis-, ent-, er-, fehl-, ge-, hinter- in-, miss-, re-, ver-, zer-
ge– bei Verben mit trennbarer Vorsilbe
Anders verhält es sich, wenn die Blume aufblüht: „auf“ ist eine trennbare Vorsilbe. Hier wird die Silbe ge- zwischen Vorsilbe und Stamm eingefügt: Die Blume blüht auf. Die Blume ist aufgeblüht.
Trennbare Vorsilben sind: ab-, an-, auf-, aus-, bei-, ein-, her-, hin-, los-, mit-, nach-, vor-, weg-, zu-, zurück-
[Übungen]
Verben auf -ieren
Das Partizip II von Verben, die auf -ieren enden, wird ebenfalls ohne Vorsilbe ge– gebildet. Verben, die auf -ieren enden, sind oft Lehnwörter aus anderen Sprachen: trainieren, fantasieren, kopulieren, diskutieren, sich amüsieren. Die Endung drückt aus, dass etwas wiederholt oder mit einer gewissen Dauer getan wird. Sie ist zugleich Bestandteil der „gehobenen Sprache“.
Wird die Endung an deutsche Verben angehängt, drückt sich darin ein gewisser Spott auf diese Ausdrucksweise aus: Er soll sich verdünnisieren (er soll verschwinden), lass uns mal wieder kaffeesieren (gemütlich Kaffee trinken und plaudern). Das Partizip II wird immer ohne ge– und das Perfekt mit haben gebildet: Wir haben diskutiert, fantasiert, trainiert.
Die Endungen des Partizip II
Verben enden im Partizip II auf -en oder auf -t: gegeben, gelebt.
Auf -t enden:
- die sogenannten regelmäßigen Verben: leben: lebte: gelebt; sagen: sagte: gesagt.
Diese Verben werden manchmal auch als „schwache“ Verben bezeichnet. Darin verbirgt sich ein Bild, denn die deutschen Romantiker stellten sich das „t“ wie einen Baum vor, an den sich die Verbform anlehnt.
- Verben auf -ieren, die immer auch regelmäßige Verben sind: trainieren: trainierte: trainiert.
Auf –en enden:
- unregelmäßige Verben, deren Ablaut sich im Präteritum und im Perfekt unterscheidet: nehmen – nahm – genommen; schlafen – schlief – geschlafen; sehen – sah – gesehen;
Diese Verben werden oft auch als „starke“ Verben bezeichnet, weil sie ihren eigenen Willen durchsetzen, statt sich gemütlich irgendwo anzulehnen.
Mischformen
Und dann sind da noch die Mischformen. Sie haben einen Vokalwechsel, aber werden trotzdem mit -t am Ende gebildet: bringen – brachte – gebracht; brennen – brannte – gebrannt, wissen – wusste – gewusst.
Hier fällt auf: Es findet kein Vokalwechsel zwischen Präteritum (brannte) und Perfekt (gebrannt) statt. Daher werden diese Verben eher als regelmäßig oder „schwach“ empfunden und in Analogie zu den regelmäßigen Verben mit einem t zum Anlehnen ausgestattet.
Leider gibt es hier aber eine wichtige Ausnahme: Erfolgt der Vokalwechsel zum o, wird die Endung -en angehängt: ziehen – zog – gezogen, schließen – schloss – geschlossen. Das O des Mondes ist eben einfach zu stark, um sich an Regeln zu halten.
Das Perfekt der Modalverben
Das Partizip II von Modalverben wird „eigentlich“ mit –en gebildet:
Ich habe nicht kommen können.
Ich habe nicht tanzen dürfen.
Ich habe das glauben wollen.
Verwendet man das Modalverb jedoch ohne ein zweites Verb, wird es wie ein regelmäßiges Verb behandelt und erhält die Vorsilbe ge-:
Das habe ich nicht gewollt. Ich habe nicht gedurft. Er hat es nicht gekonnt.
Am häufigsten wird allerdings das Präteritum verwendet: Das wollte ich nicht. Das durfte ich nicht. Das konnte ich nicht.
Verben der Wahrnehmung werden in Kombination mit einem zweiten Verb wie Modalverben verwendet:
Ich habe das kommen sehen.
Ich habe ihn singen hören. (Noch schöner: Ich habe ihn singen hören dürfen. :D)
Allerdings wandelt sich dies bereits, häufiger hört man heute: Ich habe das kommen gesehen.
Tauchen die Verben ohne zweites Verb auf, wird das Partizip regulär gebildet: Ich habe ihn gesehen. Du hast ihn gehört.
Vorsicht, Verwechslungsgefahr!
Setzen oder sitzen? Stellen oder stehen? Legen oder liegen? Hängen oder hängen?
Im Deutschen gibt es Wortpartner, die einander zum Verwechseln ähnlich sind.
Was unterscheidet die Wörter voneinander? Das schauen wir uns jetzt an.
Tun und lassen
Ich setze mich ins Gras. Ich sitze im Gras. Ich stelle den Teller auf den Tisch. Der Teller steht auf dem Tisch. Ich lege das Buch ins Regal. Das Buch liegt im Regal. Ich hänge die Wäsche auf die Leine. Die Wäsche hängt auf der Leine.
Bestimmt kannst du den Unterschied zwischen den Wörtern jetzt schon erkennen und benennen, oder?
[Lösung]
Eines der Wörter wird mit Objekt verwendet: Ich setze, stelle, lege oder hänge jemanden oder etwas irgendwohin. Ich tue also etwas mit dem Objekt. Und wenn ich damit fertig bin? Dann sitzt, steht, liegt oder hängt das Ding irgendwo.
Die Aussage, was ich mit dem Objekt tue, erhält eine Akkusativergänzung. Diese antwortet auf die Frage: wohin? Wohin hängst du die Wäsche? Auf die Leine.
Die Partnerform hat kein Objekt. Sie befindet sich an einem Ort und rührt sich nicht vom Fleck. Bitte wo hängt die Wäsche? Auf der Leine.
Partner mit Objekt bilden das Partizip mit -t, denn sie werden regelmäßig konjugiert: setzen: setzte: gesetzt. Partner ohne Objekt bilden das Partizip mit -en und werden unregelmäßig konjugiert: sitzen: saß: gesessen.
[ÜBUNG]
Vorsicht, nicht erschrecken!
Ein eineiiger Zwilling mit erschreckendem Potenzial ist das Verb „erschrecken“. Du kennst das sicher – meistens weiß man nicht so genau, ob man sich jetzt erschreckt hat oder erschrocken ist. Aber auch hier gilt die Regel:
Ich erschrecke jemanden: transitives Verb, regelmäßiges Partizip: Ich habe mich, dich, Peter oder den Hund erschreckt. (erschrecken: erschreckte: erschreckt)
Jemand erschrickt vor mir: (intransitives Verb, unregelmäßiges Partizip, noch dazu mit sein): Er ist erschrocken. (erschrecken: erschrak: erschrocken)
Auch hier kommt es aber vor, dass Leute „hast du mich erschrocken“ sagen. Ist ja auch nicht ganz einfach, in einer Schrecksituation noch an alles zu denken. Willst du das Problem ganz vermeiden, sagst du einfach: Hast du mir einen Schrecken eingejagt! Und schon hat das Verb seinen Schrecken verloren.
[ÜBUNGEN]
Ich habe fertig
Es ist schon eine Weile her, dass sich die ganze Nation über diesen Satz des Fußballtrainers Trapattoni amüsiert hat: “Ich habe fertig!” Wenn du magst, kannst du dir seine Wutrede hier anhören.
Das Interessante daran: Trapattoni verwendet in seiner Rede alle Perfektformen korrekt. Nur beim letzten Satz schießt er ein Eigentor.
Warum tut er das? Vermutlich, weil er italienisches Deutsch spricht und die Form so nutzt, wie er es gewohnt ist (ho finito). Vielleicht aber auch, weil er etwas tut, was man „übergeneralisieren“ nennt: Er hat alles gesagt, er hat sich aufgeregt, er hat gewütet, er hat die Dinge beim Namen genannt. Und dieser Logik zufolge hat er seine Rede nun eben auch fertig.
Nur: Wenn wir das Objekt an dieser Stelle nicht benennen, sind wir fertig (ho finito). Manchmal sind wir dann sogar fix und fertig (sono finito). Aber wir sollten uns eines dennoch immer vergegenwärtigen: Fehler machen klug. Statt darüber zu schimpfen und hinzuschmeißen, sollten wir sie uns genau anschauen. Erst dann sind wir wirklich fertig.
So viel für heute. In der nächsten Lektion geht es dann mit dem Präteritum weiter. Und mit der Frage: Warum kamen die Rosenbergs in jenem Sommer auf den elektrischen Stuhl? Warum sind sie dort nicht hingekommen? Ich freue mich, wenn du wieder dabei bist. Ebenso wie über deinen Kommentar, ein Lob, eine kritische Anmerkung, eine Frage oder eine Ergänzung.
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[1] In vielen Grammatiken werden nur solche Verben als transitiv bezeichnet, die eine Ergänzung im Akkusativ regieren. Ich verzichte an dieser Stelle auf eine solche Unterscheidung und verwende “transitiv” hier rein im Sinn von “zu etwas übergehend”.
Wow! Das war kompakt. Aber gut erklärt; mir ist einiges erst jetzt aufgefallen, über das ich nie nachgedacht habe. Ob ich mir alles merken konnte? Wahrscheinlich nicht nach einmaligem Lesen … 😉
Verrückt oder? Ich glaube, ich habe während des ganzen Studiums nicht so viel gelernt wie in den Jahren des Unterrichtens. Was für ein Chaos das allerdings anfangs im Kopf auslöste … 😀 Danke fürs Lesen und Kommentieren! Ich hoffe, ich komme bald dazu, weiter daran zu arbeiten.