Charb: Brief an die Heuchler. Buchempfehlung

In seiner Streitschrift „An die Heuchler“ reagierte Stéphane Charbonnier, damaliger Redaktionsleiter des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo, auf Islamophobie-Vorwürfe. Im folgenden Beitrag möchte ich euch diese Schrift vorstellen, die Charb zwei Tage vor seiner Ermordung im Januar 2015 beendete. 

Brief an die Heuchler: Kann Solidarität mit den Opfern von „Islamophobie“ rassistisch sein?

Charb legte seine Streitschrift am 05.01.2015 vor, zwei Tage später wurden er und 11 weitere Menschen in der Redaktion von Charlie Hebdo ermordet. Das Buch ist in ein Vorwort sowie in acht Kapitel unterteilt, in denen Charb auf insgesamt 94 Seiten mit großer Wut Vorwürfe widerlegt, denen zufolge er bzw. Charlie Hebdo Islamophobie förderten.

Charb führt darin zunächst den Gedanken aus, dass der Begriff „islamophob“ von jenen gewählt und inflationär gebraucht werde, die ihren eigenen Rassismus damit tarnen. Motiv hierfür sei nicht Solidarität mit Menschen, die Opfer rassistischer Attacken sind, sondern Profitgier, politisches Kalkül, das Ringen um mediale Aufmerksamkeit und Sucht nach Anerkennung.

Charb führt diesen Gedanken weiter, indem er das Muslim-Bild der vermeintlich Solidarischen den Inhalten der satirischen Zeichnungen gegenüberstellt. Die Zeichnungen, so lässt sich folgern, zeigen Extremisten, Sektierer, absurde Situationen und Einordnungen. Sie setzen niemals alle Muslime damit gleich, sondern heben Einzelne heraus, die sich besonders lautstark oder gewalttätig als vermeintliches Sprachrohr einer heterogenen Gruppe aufführen.

Kritiker dagegen, die Charlie Hebdo Islamophobie unterstellen, verteidigen Charb zufolge nicht den einzelnen Menschen als Staatsbürger, der von Rassisten attackiert wird. Sie verteidigen den Repräsentanten einer Glaubensrichtung. Sie erklären damit jeden Menschen muslimischer Herkunft zum Mitglied einer homogenen Gruppe. Und spielen auf genau diese Weise den Rassisten in die Hände.

Charb benennt dieses Verhalten, Muslime wegen ihres Glaubens und nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu Frankreich verteidigen zu wollen, als „ekelhaften Paternalismus“ des „linken weißen bürgerlichen Intellektuellen“, der diesen „bedauernswerten, ungebildeten und unglücklichen Menschen beistehen möchte“.

Genau darin drückt sich aber Charb zufolge der eigentliche Rassismus aus: In der vermeintlichen Verteidigung einer Menschengruppe, die als kulturfremd, ein wenig unterbelichtet und insgesamt – aufgrund der Unterordnung des Individuums unter einen Glauben – als homogen dargestellt wird.

Statt also eine „verschwindend geringe Minderheit“ an Gewalttätern und Schreihälsen zurückzuweisen, ließe man zu oder fördere, dass alle als Angehörige dieser Gruppe wahrgenommen werden. Denn: „Wenn die skurrile Zeichnung eines einzigen islamistischen Terroristen Islamophobie bedeutet, dann heißt das, alle Muslime sind Terroristen oder solidarisieren sich mit ihnen.“

Für den Satiriker aber besteht die Pflicht, nicht den Islam, sondern die Person und insbesondere den Atheisten gegenüber einer solchen Vereinnahmung zu schützen. Nicht Islamophobie muss daher zurückgewiesen werden, sondern der generelle Rassismus, der darin besteht, den Angehörigen einer Gruppe ihre Individualität abzusprechen.  

Leseeindrücke

Zugegeben, ich habe nicht jeden Gedanken Charbs bis ins Detail verstanden. Das liegt sicherlich auch daran, dass ich mit der französischen Debatte nicht wirklich vertraut bin. Hier und dort regte sich Widerspruch, aber ich lese ein solches Buch ja schließlich nicht als Richterin, sondern aus Interesse an unterschiedlichen Positionen und Sichtweisen.

Erschreckend fand ich, was Charb über seinen Redaktionsalltag und über die Beteiligung der Medien an der Skandalisierung von Satire zu berichten hatte. Der Autor ermöglichte es mir zudem, die Zeichnungen von Charlie Hebdo aus seiner Perspektive neu zu betrachten und in ihrer Komplexität zu verstehen.

Die Lektüre eröffnete mir auch einen neuen Blick auf die ausgeleierte, aber immer wieder neu aufgelegte Debatte zur Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Schon die Fragestellung geht in genau die Richtung, die Charb der medialen und politischen Öffentlichkeit vorwirft: Denn natürlich gehört nicht „der Islam“ zu Deutschland, ebenso wenig wie irgendeine andere Religion in dieser Ausschließlichkeit zu Deutschland gehört.

Es sind die Menschen, die zu diesem Land gehören – in ihrer grundsätzlichen Zustimmung zu Land, Leuten und Verfassung. Und in ihrer Verschiedenheit, die nur dort möglich ist, wo man Rassisten, Fundamentalisten, aber auch jene, die aus Diskriminierung ein Geschäftsmodell oder ein politisches Kalkül machen, in ihre Schranken verweist. Denn am Ende sind es vor allem die „Heuchler“, die immer wieder Debatten initiieren, die einen Bekenntniszwang auf der Grundlage unsinniger Polarisierungen einfordern.

Fazit

Ich verstehe, dass Menschen eine Karikatur ablehnen, die aus ihrer Sicht geschmacklos ist, weil sie – vermeintlich – ihren Glauben beleidigt. Ich verstehe, dass es Menschen, die Alltagsrassismus ausgesetzt sind, schwerfällt, die Karikaturen von Charlie Hebdo als das zu betrachten, was sie sind: Kritik am Exzess und Parteinahme gegen die Vereinnahmung durch Heuchler einerseits und Extremisten andererseits.

Letztlich verstehe ich aber auch, was Charb deutlich ausspricht: Oft sind es gar nicht muslimische Mitbürger, die die Karikaturen kritisieren. Sondern es sind die, die sich auf die eine oder andere Weise zu ihrem Sprachrohr erheben.

Durch die Lektüre hat sich mein eigener Blick auf die oft schockierenden Zeichnungen verändert. Insbesondere auf ihre zynische Wahrheit, die sich in der Zusammenschau des Unfassbaren mit einer abstoßenden Interpretation ausdrückt, die nicht die Interpretation des Zeichners ist. Genau das ist es, was Satire vermag und was Satire will. Auch wenn das, was sie uns zeigt, unfassbar schmerzen kann.

Bibliographische Angaben

Charb: Brief an die Heuchler – und wie sie den Rassisten in die Hände spielen. Tropen Sachbuch, Stuttgart 2015.

ISBN: 978-3-608-50229-9

Preis: € 12,-

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert