Buchempfehlung: Corpus Delicti von Juli Zeh

Nebst einem eigenen Abstecher in Sachen Gesundheitspolitik.

(Erste Veröffentlichung dieses Beitrags erfolgte 2019)

Erst nannten wir es Christentum, dann Demokratie. Heute nennen wir es METHODE. Immer absolute Wahrheit, immer das reine Gute, immer das zwingende Bedürfnis, die ganze Welt damit zu beglücken. Alles Religion. Weshalb sollte sich ein Ungläubiger wie Sie für eine Spielart des immer gleichen Irrtums stark machen?“ (Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess.)

Mit diesen Gedanken konfrontiert die Protagonistin Mia Holl aus Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ ihren Widersacher, Heinrich Kramer, der die Provokation erkennt, aber dennoch verspricht, Milde walten zu lassen. Wie überhaupt fast alle in diesem Buch so unfassbar bemüht sind, das Gute, das Richtige, das Verständige zu tun, auch wenn es letztlich dazu führt, dass Unschuldige sterben und sich Fortschritt, Aufklärung und Mitleid in eine düstere Triade verwandeln, der ein Einzelner nichts mehr entgegenzusetzen hat. Denn wo alle einer Methode folgen, die einzig und allein das Richtige vorgibt, da wird jeder Fehler, jeder Ausbruchsversuch aus dem Rationalen zur Ketzerei.

Gesundheit ist das höchste Gut der METHODE in Juli Zehs Roman. Gibt es aber nicht auch ein Recht auf Krankheit? Darf sich der Einzelne der ihm per Gesetz verordneten Gesundheit entziehen? Müssen wir alle auf ewig gesund, glücklich und ausgeglichen sein, wenn man uns die Möglichkeiten dazu an die Hand gibt?

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Wenn das Beste das Gute korrumpiert

Das Thema Gesundheit als totalitärer Wert, als Diesseitsverheißung, für die wir wesentliche Prinzipien des Rechtsstaates aushebeln, beschäftigt mich nicht erst, seitdem Jens Spahn Karl Lauterbach Gesundheitsminister ist. Aber seither einmal mehr.

Was sich im Gesundheitssystem momentan vollzieht, kommt einer Verkehrung der Grundlagen unserer Rechtsprechung gleich. Der Körper, mein und dein Leib, wird zur öffentlichen Angelegenheit, der Staat will sich das Recht vorbehalten, Eingriffe daran vornehmen zu lassen, ohne dass ein ausdrückliches Einverständnis vorliegt (Widerspruchslösung) und ohne dass die Dringlichkeit einer Maßnahme oder deren zuverlässiges Funktionieren gesichert ist (Pflichtimpfung).

Menschen werden gegen ihren Willen in Heime oder Pflegeeinrichtungen eingewiesen und dem Pflegenotstand will man begegnen, indem Fachkräfte aus armen Ländern ohne finanzielle Absicherung und mit einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung angeheuert werden, sodass sie sehr wahrscheinlich entweder direkt in den Fangnetzen mafiöser Geschäftemacher landen oder aber sich gezwungen sehen, irgendeinen Job anzunehmen – zu welchen Bedingungen auch immer.

Die Angst vor Krankheit und Tod bestimmt unsere Gesellschaft in einer Weise, die ihr schadet und jeden Lebensmut nimmt. Das Diktum, sich gesund und fit zu halten, durchzieht in nie gekannter Weise bereits heute unseren Alltag, zu dem keine Krankenkasse, sondern eine „Gesundheitskasse“ gehört. Es setzt sich fort in dem Bestreben, sich lebenslang zu optimieren – auch körperlich. Mit diesen Sorgen und Gedanken im Hinterkopf lese ich ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“.

Aufklärung und Methode als Tod von Lebensfreude und Irrationalität

Protagonistin des Romans ist die Wissenschaftlerin Mia Holl, deren Bruder Moritz im Gefängnis Selbstmord begangen hat. Moritz wurde wegen eines Mordes verhaftet, den er begangen haben soll und den man ihm per DNA-Untersuchung nachwies. Im Laufe der Geschichte wird sich jedoch herausstellen, dass Mias Verdacht, dass es sich um einen Justizirrtum handelte, berechtigt ist.

Doch sind die Motive und Handlungen, die Suche nach Recht und Gerechtigkeit ohnehin nur von symbolischer Bedeutung. Wovon der Roman eigentlich erzählt, das ist der Kampf von Individuen gegen den Zwang, sich der Rationalität einer METHODE unterordnen zu müssen, die doch nur zum Besten eines jeden Einzelnen und der Gemeinschaft dient. Eine Methode, die dem Menschen das Beste verheißt und ihm das Köstlichste nimmt: seine Freiheit, seine Irrationalität, seine Lust am Leben, am Genuss, an der eigenen Natur und Widersprüchlichkeit.

Während Moritz klar als Revoluzzer auftritt, der sich der alles überschattenden Methode durch irrationale Handlungen immer wieder entzieht, ist Mia innerlich im Zwiespalt. Einerseits ist „die Methode“ aus rein rationaler Sicht dazu geeignet, die Menschen zu lehren, wie sie Krankheit und Tod aus dem Weg gehen. Andererseits liebt sie ihren Bruder über alles und lernt durch ihn sehen, dass Wissenschaft und Rationalität eben keine Lebensfreude, Wärme, Spontaneität ersetzen können. Dass jede Methode, die den Anspruch auf Totalität erhebt, lebensfeindlich ist und zum Diktator mutiert.

Faszinierende Auflösung: Rationalität und Logik im Dienste von Herz und Intuition

Mia will beweisen, dass Moritz unschuldig war – und das gelingt ihr schließlich auch. Der Autorin selbst gelingt damit eine Wende, die mich mehr als begeistert hat. Sah sich der Leser zuvor hin- und hergerissen in ein illusionäres Entweder-Oder, so wird nunmehr deutlich, dass es immer einen dritten, vierten, einen anderen Weg geben kann und wird.

Denn Mia, die Wissenschaftlerin, die aus Liebe und Intuition an allem, was logisch und rational ist, zu zweifeln beginnt, findet über diese Zweifel zu sich selbst und ihrer Art, die Dinge zu betrachten, zurück. Sie versteht, es gibt ein Wissen, jenseits aller Argumente, an das sie sich halten, das sie finden muss. Oder in ihren Worten:

Es ist ganz simpel. Sie glauben, mich überreden zu können, weil ich keine Argumente habe. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich brauche keine Argumente. Je weniger ich davon habe, desto stärker werde ich.“

Mia wird also nicht zur Esoterikerin, um den inneren Zwiespalt für sich aufzulösen, und schlägt auch nicht den Weg ihres Bruders ein, sie bleibt sich selbst trotz aller Verwirrung und Pein treu. Was sie erfahren hat, resultiert aus der Dialektik des Sowohl-als-Auch. Nicht sie muss sich der Methode fügen, sondern die Methode muss den Zweifel an sich selbst zulassen, muss aus Liebe zum Menschen, für den sie sich doch vermeintlich einsetzt, dessen Irrationalität ertragen. Erst dann wird daraus eine menschengemäße Logik und Wahrheit, die uns zu echten Erkenntnissen bringt.

Vom Theaterstück zum Roman: kleine Brüche im Erzählstil, aber insgesamt von überzeugender Tonalität

Was den Erzählstil anbelangt, hat es ein paar Seiten gedauert, bevor der Roman mich wirklich zu fesseln begann. Hier und da atmet er wohl noch zu sehr den Geist des Theaterstückes, als das er ursprünglich angelegt war. Man spürt ein paar Brüche, bemerkt, dass Beschreibungen und erzählende Passagen „eingefügt“ oder nachträglich bearbeitet wurden. Doch versteht Juli Zeh es, dieses kleine Manko mit feinen erzählerischen Gesten und einer sehr eigenen Stimme auszugleichen, weshalb ich das Buch letztlich nur aus vollem Herzen weiterempfehlen kann. 10 Jahre nach seinem Erscheinen einmal mehr als es im Jahre 2009 noch der Fall gewesen wäre.

Die Zitate entstammen der folgenden Ausgabe:
Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess. E-Book-Ausgabe 2018, btb Verlag.

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