Buchbesprechung: Im Schatten des Todes

Eine Novelle von Rūdolfs Blaumanis

14 Fischer und zwei Pferde befinden sich auf dem Eis in der Bucht von Riga. Die Männer werfen ihre Netze aus und bemerken erst zu spät, dass sich die Scholle, auf der sie stehen, vom Ufer gelöst hat und aufs offene Meer zutreibt. Einer versucht noch ans Ufer zu kommen, ertrinkt aber in dem eiskalten Wasser.

Die übrigen Männer finden sich in kleinen Gruppen zusammen, beratschlagen, was zu tun ist, erzählen sich von ähnlichen Vorfällen, die mehr oder weniger gut ausgegangen sind. Bis einem einfällt, dass in der Region schon einmal eine Gruppe von Menschen „verschollen“ ist.

Alle schwiegen und wagten nicht, einander anzusehen, denn in großem Unglück schämt sich der Mensch ebensosehr, wie in großer Schmach“, kommentiert der Erzähler, der uns von diesem Ereignis berichtet. Ein knapper Kommentar, der dennoch von einer tiefen Menschenkenntnis zeugt, die sich in rationalen Erwägungen nicht erschöpft. Schließlich – warum sollten wir uns schämen, wenn wir unschuldig in Gefahr geraten?

Rūdolf Blaumanis als Begründer der psychologischen Kurzgeschichte

Rūdolfs Blaumanis heißt der Dichter, der uns von dem Ereignis berichtet, und er zählt zu den Klassikern der lettischen Literatur. Geboren 1863 im livländischen Ērgļi besuchte Blaumanis später die deutsche Handelsschule in Riga und verfasste seine ersten Werke auch auf Deutsch.

Die Novelle „Im Schatten des Todes“ entstand 1899 und trug wohl dazu bei, dass Blaumanis als „Begründer der psychologischen Kurzgeschichte“ in lettischer Sprache gilt.

Die Bezeichnung „Novelle“ lässt an sprachlich überbordende Erzählungen mit sich beständig zuspitzender Dramatik und kompliziertem Aufbau denken. Tatsächlich gleicht die Geschichte eher einer Skizze zu einem „sozialpsychologischen Experiment“ (Füllmann).  Sie basiert auf einer wahren Begebenheit, wie sie sich noch bis vor wenigen Jahren an der baltischen Ostsee hätte ereignen können, da sich dort im Winter immer mal wieder große Eisschollen vom Ufer lösten, sodass Menschen auf diese Weise in Gefahr gerieten.

Blaumanis verarbeitete hier einen schwedischen Zeitungsbericht über ein solches Ereignis, an dem 240 Menschen beteiligt waren, von denen nur 40 gerettet werden konnten. Statt auf die große Katastrophe konzentriert er sich in seiner Novelle jedoch auf die Darstellung der verschiedenen Charaktere und auf ihren Umgang mit der Todesgefahr.

Beeindruckende Charakterstudie trotz karger Ausgestaltung

Bemerkenswert, dass gerade diese diskrete Zurückhaltung des Erzählers die Charaktere in kleinen Gesten und Andeutungen sichtbar werden lässt.

Da ist der alte Fischer Grünthal, den alle Männer sofort als Autorität anerkennen und der immer wieder versucht, ihnen Mut zuzusprechen. Da ist Salga, der nicht teilen will und sich – als endlich ein Boot naht, das Rettung verspricht, aber nicht alle der „Vertriebenen“ mitnehmen kann – sofort einen Platz sichern will, ganz egal, was aus den anderen wird.

Und während so die einen als egoistisch, andere als eher selbstlos gezeichnet werden, zieht sich der Fischer Gurlum zurück, von der Sorge getrieben, dass er sich lächerlich machen könnte, sollte es ihm „an Mut gebrechen“, „freiwillig und in Ehren zu sterben, wenn alle Hoffnung geschwunden“ ist. Die eingangs erwähnte Scham, die Menschen angesichts eines Unglücks, in das sie geraten sind, empfinden, wird hier auf die Frage zugespitzt, wie sie dem Unausweichlichen persönlich entgegentreten.  

Faszinierende Lese-Erfahrung: Entwickelt sich der Protagonist oder bin ich es selbst?

Der eigentliche Protagonist der Novelle aber ist Birkenbaums, ein kräftiger Bursche, der als Einziger nicht aus Kurland, sondern wie Blaumanis aus Livland stammt. Birkenbaums gilt als Raufbold und hat auch sonst keinen guten Ruf unter den Männern. Doch eben dieser Birkenbaums wandelt sich im Laufe der Geschichte, kümmert sich rührend und bis zur Selbstaufgabe um den 16-jährigen Karlen, der ebenfalls mit den Männern auf der Eisscholle gefangen ist.

Was mich an der Entwicklung dieses Protagonisten besonders fasziniert hat, ist, dass ich mich als Leserin fragen muss: Hat es den bösen Raufbold Birkenbaums eigentlich jemals gegeben? Oder saß ich wie die Männer, in deren Achtung Birkenbaums allmählich steigt, einem Vorurteil auf? Ist es wirklich der Protagonist, der hier eine Entwicklung durchmacht oder bin ich es selbst?

Nicht die Sorge um uns selbst, erhebt uns, sondern „der Schmerz anderer über unser Schicksal“

Nach fünf langen Tagen nähert sich dann schließlich ein Boot und die Geschichte nimmt nun eine weitere Wendung. Deren Ausgang möchte ich an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Es klingt darin noch einmal an, was die besten dieser Männer schon zuvor beschäftigte, nämlich, dass uns nichts „so sehr erhebt“ und uns nichts zugleich „so verwundet“ wie „der Schmerz anderer über unser Schicksal“. Anders gesagt: Nicht um uns selbst sollten wir uns sorgen, sondern um die, die wir zurücklassen, die um uns trauern werden.

Birkenbaums muss zum Ende eine Entscheidung treffen, die ihm sichtlich schwerfällt. Blaumanis widersteht hier der Versuchung, seinen Protagonisten in einen „Superhelden“ zu verwandeln. Gerade daraus aber zieht die Novelle vom „Schatten des Todes“ ihre psychologische Tiefe.

Sie verbietet es dem heutigen Leser, der soeben aus purer Angst vor einer Virenerkrankung und ohne Rücksicht auf das, was die Gemeinschaft benötigt, seine Vorräte aufgefüllt hat, es sich auch nur ansatzweise herauszunehmen, über einen der Männer ein Urteil zu fällen. Und sie fordert gerade deshalb zu der stets aktuellen Frage heraus: Wie hätte ich mich verhalten?

Leseempfehlung? Was sonst!

Ausgaben

Die Ausgabe, auf die ich mich hier beziehe, ist 2014 im Verlag hochroth erschienen und dort für € 8.- erhältlich. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen wurde sie von dem deutschen Literaturwissenschaftler Rolf Füllmann. Die Übersetzung stammt vom Autor selbst.

Wie es sich für Klassiker gehört, existieren aber natürlich auch andere käufliche Ausgaben sowie eine E-Book, außerdem wurde die Novelle verfilmt.

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