Alltagsmythen: die Ziegelsteinmauer als Hintergrund fürs Polit-Marketing

Ist sie euch auch schon mal aufgefallen? Die rote Ziegelsteinmauer, die in zahlreichen Profilbildern und Videos von Marketingagenturen im Hintergrund zu sehen ist? Mir begegnet sie vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie. Vielleicht ist das Zufall, vielleicht war sie auch zuvor schon oft zu sehen und ist mir bis dahin gar nicht aufgefallen, weil ich mit Menschen, die in Marketingagenturen vor einer roten Ziegelsteinmauer posieren, nur wenig Berührungspunkte habe.

Tatsächlich ist die rote Backsteinmauer aber eben nicht nur Hintergrund, sondern bildet die eigentliche Botschaft ab. Welche das sein könnte und was Experten diesbezüglich raten könnten, darüber habe ich mir ein paar Gedanken gemacht. Natürlich auf streng wissenschaftlicher Basis.

In den Social Media fiel mir die Ziegelsteinmauer vor allem in zwei Arten von Profilen auf: in Fakeprofilen von Leuten, die sich ein Leben verschaffen wollten. Und in Profilen von Akteuren, die so etwas wie „Social Listening“ und ungefragtes „Answering” betreiben, weil sie fürs „Monitoring“ bezahlt werden. Manchmal sieht man in diesen Profilen nur die Mauer im Hintergrund, manchmal ein wenig Grün und einen Gartenstuhl oder eine Skulptur dazu. Die Mauer kann Innen- und Außenbereiche schmücken und besteht meistens aus rotem Ziegelstein, vielleicht, weil das weniger altbacken wirkt und mehr Wärme ausstrahlt.

Aber wofür steht diese Mauer eigentlich?

In meine Assoziationskette gehören: Urtümlichkeit, Authentizität, Tradition, Handwerk, Klasse statt Masse, Natürlichkeit, Garten- oder Kaminidyllik und Individualität. Viel Individualität, denn natürlich ist davon auszugehen, dass jede dieser Mauern extra und einzigartig (unique!!!) für ihren Besitzer hergestellt wird, sodass er oder sie den Charme des Unverwechselbaren genießt.

Je nach Optik und Material kann die Mauer zudem ein starkes Fundament oder auch die Wiederverwendung des Alten für etwas Neues signalisieren. Ziegel oder Backsteine (so viel Ungenauigkeit erlaube ich mir heute mal) stehen für eine gesicherte Lebensgrundlage, für eine satte kaufmännische Tradition, für Ratsherren und -frauen, die unseren Reichtum mehren. Backsteinmauern bieten ein angenehmes „natürliches“ Ambiente, gelten als besonders wetterfest und energiesparend und grenzen den Privatbesitz von öffentlichem Grund ab.

Wahrlich, wer so eine rote Ziegelsteinmauer sein Eigen nennt (oder sich davor ablichten lässt), der muss schon ein ehrenwertes Mitglied dieser Gesellschaft sein.

Dass der Mythos Ziegelstein nicht der Moderne vorbehalten ist, zeigt ein rascher Blick in die Geschichte von Mythen und Märchen. Aus der ägyptischen Mythologie ist der Lehmziegel als Geburtsziegel bekannt und zeigt entweder die Geburt göttlicher Wesen an oder den Schutz, um den eine Gottheit gebeten wurde. Man macht also nichts verkehrt, wenn man einen besonders bedeutungsschwangeren Mythos dahinter vermutet.

Im südlichen Afrika schützt man sich vor einem zwergenhaften und bösartigen Fabelwesen namens Tokoloshe, indem man sein Bett mit Backsteinen erhöht. Eine andere Möglichkeit, sich vor Tokoleshe zu schützen, soll darin bestehen, einen Schamanen zu Hilfe zu rufen. Allerdings ist Vorsicht geboten, denn selbiger könnte das Erscheinen Tokoleshes auch verursachen. Backsteine sind da also allemal die bessere Wahl, damit man die Geister, die man rief, auch wieder los wird.

Im Märchen bieten Backsteine kleinen Schweinchen optimalen Schutz, werden aber auch gern verwendet, um den Wolf im Schafspelz zu beschweren. Experten raten daher, sich nur für Backsteine zu entscheiden, wenn man moralisch gefestigt und nicht von Gier oder anderen Todsünden getrieben wird.

Als problematisch erweist es sich jedoch, dass Backsteinmauern heute oft Fake-Mauern sind – also Fototapeten oder Texturen, die nur den Eindruck erzeugen, dass im Hintergrund eine Mauer steht. Auch eine Wandverkleidung in Barocksteinoptik erhält man heute schon für schlappe € 13,- pro laufendem Meter. Eine solche Mauer bietet leider weder Schutz noch lassen sich die Ziegelsteine anderweitig verwenden.

Neben der positiven mythologischen Deutung der Ziegelsteinmauer sind auch negative Konnotationen bekannt. So kann der Mythos die verborgene Botschaft enthalten, dass sich die davor abgelichtete Person auf einer großen Baustelle befindet oder dass es sich um einen Charakter handelt, der sich zwanghaft von anderen abgrenzen möchte.

Besonders in Berlin sollte man es zudem tunlichst vermeiden, eine Mauer als Symbol für die eigene politische Haltung zu wählen, da die mythische Botschaft leicht missverstanden werden kann.

Peinlich könnte es auch werden, wenn die Kamera zunächst nur eine Person vor einer bunten Backsteinmauer und später eine fahle weiße Wand zeigt, die daran anschließt. Die Botschaft wäre verheerend: Was du gesehen hast, war nur ein Traum von Wohlstand, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlergehen. Den Ziegelsteinreichtum gibt es nämlich gar nicht für alle, sondern nur für die, die ausreichend Schotter haben, um sich davor zu inszenieren.

Aber so ist das eben mit den Alltagsmythen: Sie bieten nur so lange Schutz, wie man an sie glaubt.

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