Zum Bemühen um sprachliche Korrektheit in Kinderbüchern und speziell in Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“
Nein, ich will das Unwort „Neger“ nicht verteidigen. Aber in der Debatte um Pippi Langstrumpf und ihre literarischen Gefährten vermisse ich den Bezug zu dem, was Literatur auszeichnet. Astrid Lindgren schrieb weder Geschichten aus Kolonialherrensicht noch beugte sie sich gönnerhaft zu den jungen Lesern herab, um ihnen die Welt und deren korrekte Begrifflichkeit zu erläutern.
Astrid Lindgren hat Weltliteratur geschaffen. Weltliteratur für Kinder. Das ist etwas anderes, als pädagogisch wertvoll zu texten. Da werden keine Inhalte transportiert. Da darf gelogen werden, dass sich die Balken biegen. Mit dem Ziel zu unterhalten. Und mit dem Ziel, zu entlarven. Denn eine Welt, in der weiße und schwarze Kinder sich ihrer unterschiedlichen Hautfarben bewusst sind, in der sich Nord- und Südseebewohner als „ganz anders“ erkennen und neugierig aufeinander zugehen dürfen, ist leider immer noch eine erlogene Welt.
„Meine Mama ist ein Engel und mein Papa ist ein Negerkönig” (10)
Es sind nicht nur die roten Haare und die Sommersprossen sowie ihre außergewöhnliche Stärke, die Pippi zur Außenseiterin machen. Sie lebt in einer Zwischenwelt. Mit einem „Engel“ als Mutter und einem Negerkönig als Vater, mit der Aussicht, eines Tages eine „Negerprinzessin“ zu werden. „Hei hopp, was wird das für ein Leben.“ (10)
Gerade die Diskrepanz zwischen dem „Unwort“ und der Riesenfreude, die Pippi angesichts dieser Aussichten empfindet, deutet darauf, wie Lindgren versucht, dem Zeitgeist, der im „Neger“ das unterlegene Geschöpf sieht, diese Deutungshoheit zu nehmen. Und aus jeder Zeile, die sie schreibt, aus jeder Episode, die folgt wird dies deutlich, ohne deshalb in eine positive Diskriminierung überzugehen. Kein „Südseekönig“ könnte Vergleichbares leisten.
Doch bevor es soweit ist, muss Pippi erfahren, wie es sich in der „normalen“, in der zivilisierten, gesitteten Welt lebt. Muss manches über sich ergehen lassen, was wohlerzogene Kinder eben auszuhalten haben. „Plutimikation“ lernen, miterleben, wie Kinder und Erwachsene andere quälen und demütigen, erfahren, dass Gier nach Gold und Juwelen viele Menschen zu bösen Handlungen antreiben.
Sie nimmt das alles mit Gleichmut auf. Denn sie weiß ja, eines Tages wird ihr Vater sie holen und sie wird wieder glücklich sein. Als „Negerprinzessin“.
„Stellt euch mal vor, Negerprinzessin! sagte Pippi träumerisch. Es gibt nicht viele Kinder, die das werden. Und fein werde ich sein! In allen Ohren werde ich Ringe haben und in der Nase einen noch größeren Ring.“
„Aber ich werde einen eigenen Diener haben, der mir jeden Morgen den ganzen Körper mit Schuhcreme putzt. Damit ich genauso schwarz werde wie die anderen. Ich stell mich jeden Abend zum Putzen raus, zusammen mit den Schuhen.“
Ist es besser, eine Barbie sein zu wollen als eine Negerprinzessin?
Ist das Rassismus? Generationen hellhäutiger Mädchen träumen davon, auszusehen wie Barbie, verkleiden sich gern als feine Prinzessinnen mit rosa Schleifchen und Korkenzieherlocken. Pippi träumt davon, nackt und braun zu sein wie die Negerkinder. Etwas ganz Besonderes. Denn Pippi ist eine Heldin und alle Kinder wollen sein wie Pippi. Wenn Pippi „Negerkönigin“ werden will, statt Tee schlürfende Hausdame, dann ist das aus Sicht der jungen Leser/-innen kein Rassismus, sondern eine Erhöhung des Begriffs.
Wir sind es, die zusammenzucken, wenn sie von einer Malin erzählt, die so dreckig war, dass man sie für eine Negerin hätte halten können. Die gern noch einen erklärenden Kommentar einfügen würden, wenn Pippi Tüten voller Bonbons verschenkt. Vorsicht: Zur Zeit als Astrid Lindgren dieses Buch schrieb, wurde Kariesprophylaxe noch vernachlässigt!
Weltliteratur entlarvt, indem sie so tut, als würde sie lügen
In Astrid Lindgrens Erzählungen dürfen Menschen anders und neugierig aufeinander sein. Heute normieren wir sogar Obst und Gemüse, was nicht passt, kommt auf den Müll. Normierte Gleichheit aber ist ein Gebot von Wirtschaft und Effizienz, nicht von Humanität.
Pippis Vater wäre fast von den „Negern“ aufgefressen worden, dann aber ernannten sie ihn zum König. Er regiert ein bisschen herum, bevor er mit seinen vermeintlichen Untertanen feiert und durch die Gegend streift. Die nennen ihn ihren „dicken weißen Häuptling“. (248)
Hätten sie korrekterweise „beleibter hellhäutiger Bundespräsident“ gesagt? Oder wie es heute bereits als Beschimpfung allgegenwärtig ist, „alter weißer Mann“?
Pippis Vater liebt es, seinen „Untertanen“, denen er doch vielmehr erlegen ist, etwas vorzulügen – am liebsten mit Trommelbegleitung und Fackeltanz. „Je mehr ich lüge, desto kräftiger schlagen sie auf die Trommeln.“ Pippi dagegen ist einsam mit ihren Geschichten und lügt sich in ihrer „Einsamkeit selbst die Hucke so voll, dass es eine Freude ist, das anzuhören, aber nicht mal auf dem Kamm blasen tut einer deswegen“ (253).
Astrid Lindgren erzählt von der Freude und der Last am Anderssein. Und von der Einsamkeit durch den Zwang, sich an die bürgerlich korrekte Welt anzupassen. Sie erzählt und sie zeigt, was Weltliteratur ausmacht, die Kunst des ausgedachten Lügens, des Singens, des Erzählens und gemeinschaftlichen Trommelns.
Im Gegensatz zu Pippi ist es einem bedauernswerten Mädchen wie Annika verwehrt, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. „Lügen ist hässlich“, hat Annika gelernt. „Das hat meine Mama gesagt.“
Aber der schon etwas verständigere Thomas klärt sie sogleich auf: „Ach, wie dumm du bist, Annika“, sagte Thomas. Pippi lügt nicht richtig, sie tut nur, als ob das, was sie sich ausgedacht hat, gelogen ist. Verstehst du das nicht, du Dummchen?“
Das ist wahrlich die beste Definition von Literatur, die mir je zu Ohren kam: Sie tut so, als ob das, was sie sich ausgedacht hat, gelogen wäre. Leider leben wir heute in einer Welt, in der nicht einmal mehr Literaturstudenten dies verstehen, weil sie Literatur begegnen wie Menschen, die Literatur hassen.
Blässe als Symbol einer kränkelnden Welt
In der ungelogenen Welt soll Pippis Haus abgerissen werden, damit ein feiner Herr, ein „Spikulant“, sich dort eine prächtige Villa bauen kann. Pippi soll ihr Lotta-Leben gegen die gute Kinderstube im Waisenhaus eintauschen. Doch tauscht sie solch wohlmeinendes Anerbieten gern gegen ein Leben als Negerprinzessin im Taka-Tuka-Land ein. Und nimmt Annika und Thomas einfach mit, deren Mutter sich „bestimmt gewundert“ hätte, wenn sie sie jetzt sehen könnte.
Keine blassen Wangen mehr! Gesund, braungebrannt und munter kletterten sie auf dem Schiff herum, genau wie Pippi. Nach und nach hatten sie sich aus den Kleidern geschält, je wärmer das Klima wurde, und aus den dick eingepackten Kindern, die in zwei Unterhemden die Nordsee durchkreuzt hatten, waren „zwei nackte, braune Kinder geworden, jedes mit einem Schurz um den Bauch“ (337).
Herrlich haben sie es dann im Taka-Tuka-Land. Gesund sehen sie aus. Die Klamotten sind sie ebenso los wie die Blässe, das Symbol eines ungesunden, unnatürlichen Lebens, zu dem sie sonst verdammt sind. Es sind die Taka-Tuka-Kinder, die sich aus „irgendeinem unbegreiflichen Grund“ einbildeten, „dass weiße Haut viel feiner sei als schwarze, und deshalb waren sie voller Ehrfurcht, je näher sie an Pippi und Thomas und Annika herankamen“ (341).
Pippi gefällt das gar nicht. Gemeinsam erleben die „Negerkinder“ und die weißen Kinder wunderbare Abenteuer. „Alle Kinder, die weißen und die schwarzen, nahmen ihre Schurze ab und stürzten sich schreiend und lachen ins Wasser. Danach rollten sie sich im weißen Sand, und Pippi und Thomas und Annika waren sich darüber einig, dass es viel besser wäre, wenn sie auch eine schwarze Haut hätten, denn der weiße Sand auf dem schwarzen Körper sah so lustig aus“ (346).
„Wenn das Herz nur warm ist und schlägt, wie es schlagen soll, dann friert man nicht.“
Taka-Tuka-Land ist ein Paradies für Kinder, ob schwarz oder weiß, spielt hier keine Rolle. Es ist dennoch kein romantisches Naturidyll, auch dort gibt es Gefahren, Haie und Räuber beispielsweise. Aber Taka-Tuka-Land ist Freiheit von den Zwängen, denen die weißen Kinder ausgesetzt sind.
Wie blind muss man sein, um nicht zu sehen, wie Astrid Lindgren hier bewusst mit den Selbstverständlichkeiten ihrer Zeitgenossen bricht? Wie sie genüsslich an deren Mythen und Überzeugungen sägt?
Was aus deren Sicht nicht erklärt werden muss, etwa warum man Kinder stundenlang zum Stillsitzen zwingt oder warum es notwendig sein sollte, „Plutimikation“ zu lernen, wird hier zur hinterfragbaren Absonderlichkeit. In Thomas‘ und Annikas Welt sind 7 x 7 = 49. In Taka-Tuka-Land aber „ist das Klima ganz anders und viel fruchtbarer, hier ist 7 x 7 viel mehr“ (347). Und auch Thomas und Annika passen sich dem langsam an, werden „so braun, dass man keinen Unterschied mehr zwischen ihnen und den Taka-Tuka-Kindern sah“ (373).
Warum überhaupt reisen sie dann wieder zurück?
Freundschaft, nicht Gleichförmigkeit, eint in Verschiedenheit
Weil Pippi eine gute Freundin ist. Weil sie Thomas‘ und Annikas Traurigkeit und deren Sehnsucht nach den Eltern, nach Weihnachten und Schnee wahrnimmt. Und weil sie stark genug ist, den Freunden zuliebe ihre eigene Einsamkeit zu ertragen.
Heimgekehrt erwartet die Geschwister ein weihnachtlich geschmücktes und erleuchtetes Haus. Die Villa Kunterbunt dagegen wirkt kalt und verlassen. Die Kinder versuchen, Pippi zu überreden, bei ihnen zu übernachten. Was sie auf ihrer langen Reise gelernt haben, ist Freundschaft, Mitleid, Achtsamkeit, und zwar von der großen Lügnerin und „Negerprinzessin“ Pippi.
Die aber lehnt ab, sie passt nicht in Thomas‘ und Annikas Weihnachtswunderwelt. Doch sie weiß: „Wenn das Herz nur warm ist und schlägt, wie es schlagen soll, dann friert man nicht“ (379).
Pippis Rauswurf aus dem Kaffeekränzchen oder die Angst vor der eigenen Entlarvung
Pippi Langstrumpf ist ein fröhliches, ein kraftvolles, ein leidenschaftliches Buch. Aber es ist auch ein poetisches und trauriges Märchen. Eines, in dem keine bessere, sondern eine andere Welt erzählt wird, in der schwarze und weiße Kinder sich als ungleich betrachten und dennoch fröhlich miteinander spielen.
Es ist ein Lobgesang auf die Freundschaft, die Neugier, die Offenheit gegenüber einer abenteuerlichen Welt, in der nichts so selbstverständlich ist, wie die Erwachsenen es die Kinder glauben machen wollen.
Nein, ich will das Wort „Neger“ ganz und gar nicht verteidigen. Ich habe nichts dagegen, aus Pippis Vater einen Südseekönig zu machen. Wenngleich ich mich frage, was nach einer solchen Debatte die Südseebewohner davon halten sollen.
Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass Pippi aus der vornehmen Gesellschaft ausgeschlossen wird. Und zwar immer dann, wenn sie sich einmischt, wenn sie dieser Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Wenn sie lügt, dass sich die Balken biegen und damit die Wahrheit hinter all dem leeren Gerede entlarvt.
„Meine Mama ist ein Engel und mein Papa ist ein Negerkönig“ (10). Was für ein mutiges Bild zu einer Zeit, in der die Angst vor dem Fremden sicher nicht geringer war, als sie es heute ist. Und was für ein wunderbares Statement noch heute, da Menschen koloniale Aneignung mit kultureller Zuneigung zwischen Freunden verwechseln.
* Alle Zitate entstammen der folgenden Ausgabe: Lindgren, Astrid: Pippi Langstrumpf. Deutsch von Cäcilie Heinig. Zeichnungen von Rolf Rettich. Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 1987.
Die in Klammern gesetzten Ziffern geben die Seitenzahlen an.