Roland Barthes und die Mythen des Alltags. Neuauflage 2021
“Der Mythos ist eine Aussage.”
Mit dieser allgemeinen Formel negierte der französische Gelehrte Roland Barthes die Annahme, dass sich im Mythos das “Natürliche” oder “Normale” finden lasse.
Was für eine Aussage aber ist der Mythos?
Der Aufsatz gibt Einblick in das Leben und Werk des französischen Gelehrten Roland Barthes und seine Skizzierung von Alltagsmythen. Am Beispiel des “Erlanger Babys” wird der Mythosbegriff auf seine Praxistauglichkeit getestet. Ein kurzer abschließender essayistischer Beitrag überträgt die Suche nach den “Mythen des Alltags” dann auf den Umgang mit modernen Verschwörungsmythen.
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Vorbemerkung zur Neuausgabe
Bald drei Jahrzehnte ist es her, dass ein medizinischer und ethischer Skandal die Republik erschütterte: In Erlangen wurde einer im vierten Monat schwangeren Frau nach einem Unfall der Hirntod attestiert. Dennoch unternahmen die Ärzte das ihnen Mögliche, um mithilfe einer intensivmedizinischen Behandlung das Kind, das sie erwartete, zu retten.
Das „Erlanger Baby“ starb, aber der Mythos, aus dem es geboren wurde, der ihm bis zum spontanen Abort eine natürliche und normale Entwicklung bescheinigte, hat überlebt.

In diesem kleinen Aufsatz aus dem Jahre 1995 zeichne ich nach, warum das „Erlanger Baby“ viel mehr war, als ein medizinischer Skandal, der die Grenze zum Sagbaren überschritt, in dem der sich den Mythos des Natürlichen zu eigen machte und ihn damit komplett zerstörte.
Im ersten Abschnitt greife ich hierfür die Schriften und Studien von Roland Barthes auf, der sich zeit seines Lebens mit den „Mythen des Alltags“ und mit dem Versuch, solche Mythen zu „knacken“ befasst hat. Denn der Mythos war für Barthes nicht nur eine Aussageform unter vielen, sondern jene, die Anspruch darauf erhob, uns vom Natürlichen und Normalen erzählen zu können und in seiner daraus resultierenden Anfälligkeit für alles Ideologische zu den Lieblingserzählformen der Mächtigen gehört.
Im zweiten Abschnitt versuche ich, Barthes theoretische Aussagen über den Mythos als Aussage und sprachliches Zeichen auf das „Erlanger Baby“ praktisch anzuwenden. Da Barthes den Mythos vom Objekt, auf das er deutet, trennt, kann dies nur mäßig gelingen. Ziel ist es hier aber wesentlich, zu zeigen, wie bestimmte Begriffe einer kompletten Neuinterpretation unterliegen, als sich gleich bleibende sprachliche Zeichen aber noch stets vom Mythos des Natürlichen und Ursprünglichen genährt werden.
Deutlich wird dabei auch, dass der Mythos nicht als reine Struktur oder als Geflecht von Relationen verstanden werden kann, sondern immer im historischen Kontext und mit Bezug zum Inhalt/Objekt, auf den/das er verweist, interpretiert werden muss.
Im dritten Abschnitt unterziehe ich daher den Mythosbegriff, wie Barthes in prägte, einer kritischen Würdigung und begründe, warum ich ihn für unzureichend halte.
Der Aufsatz ist aus einer Studienarbeit an der Universität Bremen entstanden. Aus der Distanz heraus erkenne ich seine Stärken, aber auch seine Schwächen, den Geist der 1990er Jahre. Dem/der aufmerksamen Leser/in wird nicht entgehen, dass auch ich von einem Standpunkt aus argumentiere. Und das ist gut so. Denn wenn mich an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen etwas beunruhigt, dann ist es die Naivität, mit der das (vermeintlich) alternativlose Wahre an die Stelle des verhandelbar Richtigen tritt.
Nicht das Wahre, sondern das Menschengemäße ist es, was sich dem Mythos entgegenstellt – mag es sich dabei um eine alte Geschichte oder ein modernes Narrativ handeln. In diesem Sinne freue ich mich, wenn diese Schrift dem einen oder der anderen zum Anlass wird, Barthes, Foucault und eine ganze Reihe anderer Autor(inn)en, die darin erwähnt werden, selbst zu studieren und zu eigenen Erkenntnissen zu gelangen.
Was uns die Beschäftigung mit Roland Barthes und den “Alltagsmythen” heute noch – oder mehr denn je – zu sagen hat, habe ich in diesem Blogbeitrag zusammengefasst.
Suchbegriffe: Roland Barthes, Alltagsmythen, Erlanger Baby, Verschwörungsmythen