Übersetzung ins Deutsche und Kurzinterpretation
Seit fünf Monaten lebe ich nun in Dänemark. Da liegt es nahe, dass mein erster Beitrag nach langer Zeit einem dänischen Dichter gewidmet ist, der als der dänische Nationaldichter schlechthin weltweiten Ruhm genießt: H.C. Andersen.
In Deutschland ist Andersen vor allem für seine Märchen bekannt, darunter die kleine Meerjungfrau, die Prinzessin auf der Erbse, des Kaisers neue Kleider oder das hässliche Entlein; doch schrieb er auch Gedichte und Erzählungen, Reisebeschreibungen und Romane.
Der Dichter stammte aus einer armen Familie und musste in jungen Jahren Zeiten voller Ablehnung, Spott und Grausamkeiten erleben, bevor er als das anerkannt wurde, was er lange vergeblich sein wollte: eine richtige Prinzessin halt, ein vermeintliches Entlein, das sich in einen wunderschönen Schwan verwandelte.
Geboren am 2. April 1805 in Odense würde H.C. Andersen heute seinen 220. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass habe ich mir Andersens Gedicht „Das sterbende Kind“ genauer angesehen und versucht, es ins Deutsche zu übertragen. Dabei war es mir wichtig, Rhythmus und Reimform weitgehend zu erhalten, ohne jedoch zu weit vom Original abzuweichen. Und das ist bei meinem ersten Versuch herausgekommen:

Inhalt und Interpretation von H. C. Andersens Gedicht „Das sterbende Kind“
Andersen verfasste das Gedicht gegen Ende seiner Schulzeit, also mit etwa 18 Jahren. Es besteht aus drei achtzeiligen Strophen (von mir oben in Vierzeiler untergliedert) mit jeweils vier paarweisen Kreuzreimen. Das lyrische Ich wendet sich gleich eingangs an seine Mutter, mit der es sich an einem Ort befindet, der nicht weiter beschrieben wird. Doch handelt es sich um einen ungeschützten Raum, um ein „Hier“, das dem kalten „Draußen“, wo ein Sturm droht, gleichgestellt wird.
„Hier“, in diesem kalten Raum, bittet das lyrisch Ich darum, dass die Mutter ihm erlaube, zu entschlummern. Es wünscht sich, sie möge nicht länger weinen und schildert ihr, was es mit dem müden, geschlossenen Auge bereits sieht: die Welt der Engel, in die es das lyrisch Ich nun zieht, weil dort alles so schön ist wie im Traum.
Der Titel des Gedichtes, „Das sterbende Kind“, legt nahe, dass der Kuss des Engels, mit dem das Gedicht endet, auch den Tod des lyrischen Ichs markiert. Und doch lassen sich bei näherem Hinsehen einige „Ungereimtheiten“ finden, die das Geschehen in der Schwebe halten.
So fällt beispielsweise auf, dass das lyrische Ich im Gedicht nicht „die Augen“ schließt, sondern nur „das“ müde Auge, was es schließlich in einen Zustand versetzt, der dem Traumerleben ähnelt.
So heißt es zum Ende der ersten Strophe:

Und auch der Kuss des Engels, mit dem das Gedicht schließt, ereignet sich erst, nachdem das müde Auge geschlossen ist:

Für mich stellt sich daher die Frage, ob hier tatsächlich die leiblichen Augen gemeint sind, oder ob Andersen auf das sogenannte „innere“ Auge anspielt, mit dem das Kind Träume, Erinnerungen und Erscheinungen wahrnimmt, die für die Erwachsenen nicht sichtbar sind.
Wortschatz und Metaphorik des Gedichtes zeichnen es für mein Empfinden nicht als herausragendes Kunstwerk aus; Andersens Bildersprache bleibt dem Bekannten verhaftet, wenn er die schöne innere Welt, die der kalten stürmischen Welt draußen gegenübersteht, als durchzogen von Blumen, Farben, Engeln und Musik zeichnet.
Und doch gibt es verstörende Abweichungen vom Gewöhnlichen und Erwartbaren, etwa wenn das lyrische Ich sich fragt, ob es erst sterben müsse, um ebenfalls schöne weiße Flügel zu erhalten, die der Herr verleiht. Das Schöne erhält dadurch – Rilke lässt grüßen – einen grausamen Zug, da es ohne Rücksicht auf die Gefühle der Mutter nach einer schmerzlichen Trennung verlangt.
Doch gerade den Schmerz, den das Kind als bedrückende Last erlebt, gilt es zu überwinden, um den Engeln nahe zu sein – so erzählt es die letzte Strophe. Denn der Druck, den die Mutter ausübt, ist zu hart, ihre Wange ist zu nah, ihre Tränen brennen wie Feuer und sie zwingt das Kind, mit ihr zu weinen, statt in die fröhliche Engelswelt überzugehen. Die eingangs geschilderte Kälte, die das lyrische Ich „hier“, im Beisein der weinenden Mutter empfindet, kann diese Art der Mutterliebe nicht erwärmen.
Das „Sterben“, wie Andersen es in „Das sterbende Kind“ beschreibt, lässt sich somit auch als schmerzlicher Ablöseprozess verstehen, der nicht zum Tod des lyrischen Ich führt, sondern es ihm erlaubt, den Schmerz, den es durch die Mutter erfuhr, zu überwinden, um zu seiner eigentlichen Bestimmung zu gelangen, die sich vor seinem inneren Auge bereits als poetisch, himmlisch und Flügel verleihend darstellt.
Weiterführende Literatur und Medien
Soweit meine Interpretation des Gedichtes. Veröffentlicht wurde es übrigens erstmals 1827 in der deutschen Übersetzung von Ludolph Schley.
Falls ihr jetzt neugierig geworden seid und mehr über Andersen erfahren oder mal einen Blick auf seine Handschrift werfen wollt, findet ihr alles Wichtige über Autor und Werk sowie den Originaltext auf der Website des Hans-Christian-Andersen-Centers. Die Seite ist auf Dänisch und auf Englisch verfügbar.
Und falls ihr mehr über das Leben des Dichters und über seinen Kampf um Anerkennung erfahren wollt, empfehle ich Rumle Hammerichs Film „Unge Andersen“, den ihr u.a. auf Netflix anschauen könnt.