Von Georg Brandes
In „Wie der Tod ins Leben kam“ schildere ich an Beispielen aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte, wie sich die Vorstellungen vom Todeszeitpunkt und damit die Idee, wo das Sterben beginnt und wo es endet, im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben. Auch der deutschen Romantik ist darin ein Kapitel gewidmet und während ich dafür recherchierte, bemerkte ich, dass in mir starke Abneigung gegen das „romantische Gemüt“ aufkam, dessen Vertreter“ mir mehr und mehr wie Unheil verkündende Priester erschienen, die das Leben unter ihrer romantisierten Todessehnsucht leugneten und erstickten.
Wie groß war dann meine Überraschung, als ich dieser Tage das mehr als 150 Jahre alte Werk des dänischen Literaturkritikers Georg Brandes las, der meine Wahrnehmung und Einschätzung der deutschen Romantik in vielfacher Hinsicht bestätigt.
In „Die romantische Schule in Deutschland“, dem zweiten Band der Reihe „Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts“ sind 14 Vorlesungen, die Brandes an der Universität Kopenhagen hielt, zu einer Studie zusammengefasst.
Eine ungewöhnliche Herangehensweise: Georg Brandes in der Rolle des psychologischen Betrachters
Brandes nähert sich der Romantik in diesen Vorlesungen in der Rolle des psychologischen Betrachters, der „die romantische Schule Deutschlands im Zusammenhange“ schildern will. Er will also nicht allein einzelne Romantiker und Romantikerinnen vorstellen, er geht der Frage nach, was das typisch Deutsche an dieser Schule ist und welche Hauptströmungen sich darin finden lassen.
Man kann Brandes in seiner Vorgehensweise ein hohes Maß an Subjektivität unterstellen –allerdings gilt dies allein für seine Herangehensweise, nicht für seine Urteilskraft und seine umfassenden Kenntnis der deutschen Romantik, die ihn zu dieser Subjektivität erst befähigt.
Brandes stellt „die romantische Schule in Deutschland“ in 14 Kapiteln vor. So beschreibt er, aus welchen negativen und positiven Voraussetzungen die Romantik entstand, welche künstlerischen und sozialen Tendenzen sich darin wiederfinden, geht auf das Verhältnis der Romantiker zur Musik ein und widmet sich schließlich dem „romantischen Gemüt“, der „romantischen Sehnsucht“ und dem Verhältnis der romantischen Poeten zu Politik, Religion und Mystik.
Hygge versus romantische Sehnsucht: Vergleich zwischen deutscher und dänischer Romantik
Und da Brandes der Herkunft nach dänischer Literaturkritiker ist, liegt es nahe, dass er den Vergleich zwischen dänischer und deutscher Dichtung in seine Studie einbezieht. Demzufolge sind es die Deutschen, die die Romantik „aufgraben“, die ihre Stoffe suchen und finden, sich jedoch darin verlieren und sie in etwas Schwebendes, Nichtgreifbares bis mystisch Waberndes verformen.
Auf dänischem Boden erhielt die Romantik mehr Klarheit und mehr Form. Sie ward minder nächtlich, sie wagte sich verschleiert ins Sonnenlicht hinaus. Sie fühlte, daß sie zu einem nüchternen und besonnenen Volke gekommen, das sich selbst noch nicht ganz darüber einig geworden war, ob nicht der Schein des Mondes unnatürlich und sentimental sei. Sie stieg aus den Schachten der Berge empor, von wo Novalis sie in seinen Bergmannsliedern zum ersten Male herauf beschworen hatte, […] Sie fühlte, daß sie in eine andere, lächelndere, mildere und idyllischere Natur gekommen, sie schüttelte das Unheimliche ab, ihre dicken, formlosen Nebel verdichteten sich zu schlanken Elfenmädchen, sie vergaß den Harz und den Blocksberg, und an einem schönen St. Johannisabend schlug sie ihre Residenz auf dem Hügel des Thiergartens auf.
In der deutschen Literatur findet sich mehr Leben, in der dänischen offenbart sich mehr Kunst und Gestaltungswille und ein Zurückweichen vor dem Übertriebenen, so etwa lässt sich Brandes Vergleich zusammenfassen. Doch ist es eben auch der Wunsch nach Harmonie und das Zögern vor der Ausschweifung, der letztlich dazu führt, dass die dänische Literatur zwar angenehm zu lesen ist, ihr Publikum aber nicht zu bannen versteht. Es fehlt ihr an Kühnheit und Mut, Dinge auf die Spitze zu treiben.
Unsere Romantiker sind niemals wahnwitzig wie Hoffmann, aber auch niemals dämonisch wie er. Sie verlieren an fesselndem und überwältigendem Leben und an Energie, was sie an Lesbarkeit und Klarheit gewinnen. Sie finden verhältnismäßig mehr Leser und mehr Klassen von Lesern, aber es gelingt ihnen nicht, sie so ganz zu gewinnen. Die kraftvollere Originalität schreckt Manche ab, fesselt aber stärker. Wir haben in unserer romantischen Richtung nicht Friedrich Schlegel’s dummdreiste Unsittlichkeit, aber auch nicht seinen genialen Oppositionsgeist, und bei uns gilt für fest und gegeben, was seine Leidenschaft in Fluß bringt, und was seine Kühnheit in neue und barocke Formen gießt.
Letztlich aber sieht Brandes die deutsche Romantik als verdorben an und schlussfolgert, man werde fühlen, daß die Romantik wie mit einem wahren Hexensabbath endet, in welchem die Philosophen die Rolle der alten Vetteln spielen, unter dem Donner der Obskuranten, unter dem wahnwitzigen Geheul der Mystiker und unter dem Geschrei der Politiker nach Polizeistaat, Klerisei und Theokratie, während die Theologie und Theosophie sich auf die Wissenschaften stürzen und sie unter ihren Liebkosungen ersticken.
Fazit: intellektueller Hochgenuss
Nicht jedes Kapitel in „die romantische Schule Deutschlands“ ist gleichermaßen brillant, nicht jede Schilderung überzeugt, manchmal verliert sich die Darstellung aus meiner Sicht zu sehr im nebensächlichen Detail. Denn die Stärke dieses Buches liegt für mich in jenen Passagen, in denen Brandes rhetorische Haken schlägt, in denen er nach dem Schlagabtausch von These und Antithese ein Drittes einfordert, nämlich das Unbedingte einer Dichtung, die sich dem Leben zuwendet, statt tränenden Auges im Elfenbeinturm über liebliche Jenseitsvorstellungen zu grübeln oder sich schreckhaft und mutlos an der überkommenen Form festzuhalten. Gerade heute, wo sich so viele Debatten darauf beschränken, ein Bekenntnis für oder gegen etwas einzufordern, ist es ein Genuss und ein Vergnügen, einem mit Intellekt, Sachkenntnis und sprachlichem Feuer begnadeten Autor wie Brandes zu folgen.
Über den Autor

Georg Morris Cohen Brandes wurde am 4. Februar 1842 in Kopenhagen geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie und machte sich einen Namen als Literaturvermittler und als Wegbereiter der literarischen Erneuerung in Dänemark. Gemeinsam mit seinem Bruder Edvard Brandes und weiteren Schriftstellern gründete er die Zeitung „Politiken“, die noch heute zu den drei größten Tageszeitungen Dänemarks gehört und zum „linksliberalen“ Spektrum gezählt wird.
Brandes war auf finanzielle Unterstützung angewiesen, reiste aber viel und lebte unter anderem einige Jahre in Berlin. Allerdings war der zeitweilige Wegzug aus Dänemark wohl auch dem Umstand geschuldet, dass er dort über viele Jahre wegen seiner „freisinnigen“ Ideen scharf angegangen und ausgeschlossen wurde. Erst nachdem er internationale Anerkennung gefunden hatte, konnte er auch in Dänemark beruflich und gesellschaftlich wieder Fuß fassen.
Brandes starb am 19. Februar 1927 in Kopenhagen. Die dänische Literaturkritikervereinigung Litteraturkritikernes Lav hat 1969 einen Preis nach ihm benannt, der für ein Werk aus dem Bereich Literaturwissenschaft oder Literaturkritik vergeben wird.Noch heute sind sein Werk und sein Wirken nicht „unumstritten“, wie man gegenwärtig so schön sagt. Was könnte man sich als Kritiker und Autor Besseres wünschen?
Bibliografische Angaben
Georg Brandes „Die romantische Schule in Deutschland“ ist in verschiedenen Ausgaben und Nachdrucken erhältlich. Die deutschsprachige Erstausgabe trug den Titel:
Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts.
Zweiter Band: Die romantische Schule in Deutschland.
Vorlesungen, gehalten an der Kopenhagener Universität. Von G. Brandes
Uebersetzt und eingeleitet von Adolf Strodtmann.
Einzig autorisirte [sic] deutsche Ausgabe. Berlin. Verlag von Franz Duncker. 1873
Ich selbst habe den dänischen Originaltext als Kindle Edition heruntergeladen [Hovedstrømninger i det 19. århundredes litteratur. Bind 2. Den romantiske skole i Tydskland] und den von Adolf Strodtmann ins Deutsche übertragenen Text auf der Website der dänischen Sprach- und Literaturgesellschaft (DSL) genutzt.