Georg Brandes: Der Wahrheitshass.

Über Deutschland und Europa 1880 – 1925. Rezension

Aber wenn die Menschen schweigen, werden die Steine reden.“[i]

Vor Kurzem habe ich euch den dänischen Gelehrten und Schriftsteller Georg Brandes als Literaturkritiker vorgestellt. Heute möchte ich euch die Sammlung „Der Wahrheitshass“ empfehlen, für die verschiedene Aufsätze, Notizen und Essays von Brandes aus den Jahren 1880 bis 1925 von Hanns Grössel ausgewählt und kommentiert wurden.

Die im Berenberg-Verlag erschienene Sammlung „Der Wahrheitshass“ umfasst 21 Texte, die auf drei Kapitel verteilt sind. Die Texte behandeln kulturelle und politische Ereignisse in Deutschland und Europa und skizzieren aufgrund des gewählten Zeitraums u.a. den Weg Europas in den ersten Weltkrieg.

Die Texte in „Der Wahrheitshass“ sind überwiegend chronologisch geordnet, das erste Kapitel umfasst den Zeitraum Dezember 1878 bis Juli 1881, das zweite Kapitel beginnt mit einem Aufsatz über das Dänentum in Südjütland 1899 und endet mit einer Stellungnahme zum Zionismus im Jahre 1905. Das dritte Kapitel umfasst die Jahre 1913 bis 1925 sowie einen von Georg Brandes 1910 selbst verfassten Lebenslauf.

Den meisten Aufsätzen ist eine kurze Erklärung vorangestellt; das Buch endet mit einem Nachwort des Übersetzers und Literaturkritikers Hanns Grössel sowie Textnachweisen und Danksagung. Neben Hanns Grössel haben Peter Urban-Halle und Mathilde Prager an den Übersetzungen mitgewirkt.

Im Folgenden konzentriere ich mich hauptsächlich auf die Aufsätze Brandes, in denen er Deutschland und dessen Entwicklung im genannten Zeitraum beschreibt. Brandes hat in den Jahren 1877-1882 in Berlin gelebt, in einer Zeit, in der ihm insbesondere die Presse in Dänemark das Leben schwermachte.

Georg Brandes über Deutschland und die Deutschen

Wenn man sich mit Georg Brandes befasst, muss man sich eines vorab immer verdeutlichen: Der Literat urteilte in der Sache stets klar, versuchte nicht, etwas sprachlich zu beschönigen, zeigte aber so gar keine Neigung dazu, einseitig Partei zu ergreifen, wo man versucht, Konflikte propagandistisch aufzubauen, statt sie zu lösen. Trotz seiner Schärfe als Kritiker gehört Brandes zur seltenen Spezies jener Menschen, die auch denen, deren Meinung sie nicht teilen, mit größtem Respekt und mit Anerkennung begegnen können.

Brandes kann also ein klares ungeschöntes Bild von Deutschland zeichnen, ohne es dafür zu hassen oder seine Menschen erniedrigen zu wollen. Als zeitweiliger Emigrant ist er Deutschland ebenso dankbar wie als an Literatur begeisterter Mensch. Was ihn antreibt, lässt sich in jenen Werten finden, die er von jedem Philosophen, Schriftsteller oder Journalisten erwartet: unbedingte Wahrheitsliebe, glühender Gerechtigkeitssinn und Sinn für Unabhängigkeit.

Georg Brandes an der Universität Kopenhagen (Gemälde aus dem Jahr 1889 von Harald Slott-Møller)
Bridgeman Art Library

Klavierspiel und Servilität (1878)

In einem Aufsatz über „Klavierspiel und Servilität“ beschreibt Brandes 1878 die Servilität der Deutschen, die glauben, sie seien allesamt Künstler, die Klavier spielen könnten, und die annehmen, sie hätten Gefühle, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Schon  dieser humorvolle Beginn, der von einem gequälten Intellektuellen handelt, der in Berlin dem aufdringlichen Geklimpere aus allen Richtungen ausgesetzt ist, ließ mich aufhorchen, denn er erinnerte mich augenblicklich an Hannah Arendts Beschreibung von der „Banalität des Bösen“, die Pathos mit Erhabenheit und das Denken in abgedroschenen Phrasen mit Empathie verwechselt.

Dichter und Denker schwören sich innerhalb des Polizeistaates, in den Deutschland sich langsam, aber stetig zu verwandeln scheint, auf eine unterwürfige und mut- wie kritiklose Bewunderung ein oder aber weichen in ihren Werken in die Ferne und in nichtssagende Liebesgeschichten aus, denn „wenn sie nicht vergöttern, dann verschweigen sie. Es wird nicht mehr laut gedacht in Deutschland.“

Das „Kastenwesen“, das Deutschland mit Indien gemein habe[ii] und innerhalb dessen das Leben eines Arbeiters keinen Wert habe, gibt sich rührend besorgt um das Wohl der Völker und hängt der Vorstellung vom „Schönen und Großen“ nach, demzufolge alle Menschen „Brüder und Schwestern“ seien. Es bleibt jedoch im dahingeklimperten Ideellen stecken, was auch einer Philosophie „von Amts wegen“ geschuldet sei.

Judenhass, Reaktion und die erste Ahnung vom Weltkrieg 1881

Darüber wölbt sich ein eisenfarbener Himmel.

In „Die Bewegung gegen die Juden in Deutschland“ beschreibt Brandes 1881 den durch einen „Antisemitismusstreit“ aufflammenden Judenhass in Deutschland. Doch diese „Geisteskrankheit“ des gemeinsamen Hasses zeigt sich nicht nur in Deutschland, sondern in allen großen Nationen: In Frankreich hasse man die deutschen Spione, in Deutschland die Juden, in San Franzisco die Chinesen, in Russland die Deutschen.

In Deutschland wird der Antisemitismus von einem neuen Militarismus[iii] begleitet, der bereits die Studenten erfasst, die sich nun im Geiste einer „nordischen Anschauungsweise“ gnadenlos duellieren und damit der Erziehung ihrer Eltern folgen, die ihre Söhne auffordern, sich zu erschießen, wenn es die Ehre verlangt.

1881 ist auch das Jahr, in dem in Brandes bereits eine „Ahnung vom Weltkrieg“ aufkommt. Brandes sieht Deutschland auf dem Weg dahin, ein „Bollwerk des Konservatismus“ zu werden, das sich bis zu den Zähnen bewaffne, „gepanzert und gerüstet mit allen Mord- und Verteidigungswaffen der Wissenschaft“ und gleichzeitig „isoliert und verhaßt in der Mitte Europas“.

Der erste Weltkrieg und ein denkwürdiger Appell (1916)

1913 wird die Ahnung zur Gewissheit. In Frankreich hat Brandes zufolge der Nationalismus gesiegt, doch: „Ist in Frankreich die Vaterlandsliebe begeistert, so ist sie in Deutschland fanatisch.“ Ein großer Teil von Presse und Politik beschwört unaufhörlich die Kriegsgefahr und schürt zugleich die Kriegsbegeisterung; der Krieg wird zur „heiligen Handlung“, aus der „Mut und Kulturerhalt“ resultieren sollen. Seine vermeintliche Notwendigkeit ergibt sich aus „großkapitalistischen Interessen, die die Staatsmacht missbrauchen“, begründet aber wird er mit der Behauptung, die Triple-Entente (Großbritannien, Frankreich, Russland) wolle Deutschland vernichten.

1916 wendet sich Georg Brandes mit einem Appell an die Öffentlichkeit, in dem er darlegt, wie Kriegspropaganda und Realität einander widersprechen. „Jede der kämpfenden Großmächte behauptet“, heißt es eingangs, „daß der Krieg, den sie führt, Notwehr sei. Jede ist die Überfallene, jede kämpft für ihr Dasein. Für jede ist der Mord Notwehr, wie sie jede ihrer Lügen Notlüge nennt. Da also keine der Mächte den Krieg gewünscht hat, so laßt sie den Frieden schließen.

Wie sehr die Kriegspropaganda die Realität überdeckt, zeigt sich Brandes zufolge auch darin, dass die Menschen zum Kampf für die Freiheit aufgerufen werden, während jeder „Brief geöffnet und geprüft“ wird. Im Kampf um eine „höhere Kultur“ werden Millionen niedergemetzelt und geopfert. Statt sich nach Nähmädchenweise für oder gegen eine der Kriegsparteien zu positionieren, sollten insbesondere die neutralen Staaten ihr Gewicht in die „Wagschale des Friedens“ werfen. Doch eben diesen „Ruf nach Frieden“ schimpft man „Feigheit“. „Aber wenn die Menschen schweigen, werden die Steine reden.“

Brandes weiß, dass seine Worte nichts bewirken werden, dort, wo die „Grausamkeit Pflicht“ geworden ist und das Mitgefühl „Landesverrat“ heißt. Und doch führt er seinen Appell fort, führt vor Augen, dass ohnehin alles mit Verhandlungen enden werde und fragt: „Warum dann nicht jetzt mit den Verhandlungen beginnen?

Doch kennt er die gebetsmühlenartig erfolgende Antwort, die erstaunlicherweise dieselbe Antwort ist, die noch heute erklingt: „Wir wissen es, wir sollen die Zermalmung abwarten. Aber es wird nichts aus der Zermalmung werden, bloß aus dem Massenmorden. Keine von den zwei kämpfenden Parteien lässt sich zermalmen.“

Stattdessen vernichte die „weiße Rasse die Vorstellung ihrer Überlegenheit in der Vorstellung der schwarzen, braunen und gelben Menschen höchstselbst“. So begehe „Europa Harakiri zugunsten von Japan, und Asiens gelehrige und hart zupackende Zukunftsvölker beobachten wahrscheinlich Europas Selbstmordraserei mit etlicher Verwunderung und nicht geringer Befriedigung.“

Die Folgen des ersten Weltkriegs, Rückblick und Ausblick auf das beginnende 20. Jahrhundert

1918 notiert Brandes als Folgen des Weltkriegs, dass dieser Europa um ein Jahrhundert oder mehr zurückgeschraubt und die jungen Kräfte ausgerottet habe, von denen eine Erneuerung des Geisteslebens hätte ausgehen können. Die Gemüter sind verroht, das Seelenleben der Massen ist durch eine fanatische Presse vergiftet, die Völker seien verarmt und verdummt.

Doch schon 1919 scheint Brandes von einer neuen fürchterlichen „Ahnung“ ergriffen, denn der soeben beendet Krieg erscheint ihm nun nur als ein „großartiges und furchtbares Vorspiel zu dem nun beginnenden eigentlichen Drama der Proletarisierung Europas und vielleicht auch anderer Gebiete“.

In „Europa jetzt“, schaut Brandes 1925 zunächst zurück und konstatiert, Europa sei mit einer Neigung, „sich Illusionen hinzugeben“, ins neue Jahrhundert eingetreten. Die europäischen Völker seien zudem der „abgeschmackten Gewohnheit“ verfallen, sich selbst zu loben, die eigene Nation über alle anderen zu stellen. Gleichzeitig arbeiteten sich nun Nationalismus, Klerikalismus und Kommunismus hoch, während das politische Ideal der Völkerfreiheit längst vergessen sei. Da aber „Schwarzseherei verpönt ist, außerdem unfruchtbar,“ bleibt ihm nur zu hoffen, „daß aus dem politischen Experiment des 20. Jahrhunderts allmählich etwas Gutes hervorgehen wird“.

Ein frommer Wunsch, der nicht erfüllt wurde. Und vielleicht war es, so zynisch das klingt, ein Glück für Georg Brandes, dass er einen vierten Krieg in seinem Leben nicht mehr miterleben musste, denn der 1842 geborene Schriftsteller und Literaturkritiker starb am 19. Februar 1927 in Kopenhagen.

Georg Brandes (Fotografie 1886)
Ludwik Szacińskihttps://www.kb.dk/imageService/w1024/online_master_arkiv_6/non-archival/Images/BILLED/2008/Billede/kendis/ke002593.jpg
The Danish literary critic Georg Brandes, photographed in Kristiania (Oslo), Norway. From „Portrætbasen“, Det kongelige Bibliothek

Weitere Aufsätze und Essays in „Der Wahrheitshass“

In Wirklichkeit kann man ohne Übertreibung behaupten, dass in einer wohlgeordneten modernen Gesellschaft der Wahrheitshass – nicht derjenige der Rüpel, sondern der Wahrheitshass des schlichten Volkes und der guten, feinen, vornehmen Menschen – eine ebenso starke Macht ist wie die Wahrheitsliebe, und eine sehr viel besser organisierte.“

Deutschland und Frankreich sind die beiden Länder, denen der in Dänemark geborene Brandes in besondere Weise verbunden war, wenngleich seine Liebe und Bewunderung eher Frankreich galten. Neben den genannten Themen finden sich in der Textsammlung Aufsätze zum Dänentum in Südjütland, zur Vernichtung der Armenier durch Kurden und Türken, zum Zionismus und zum Judenhass, der sich quer durch Europa zog und zu zahlreichen Pogromen führte.

Brandes selbst stammte aus einer jüdischen Familie, hatte zum Judentum aber kein anderes Verhältnis, als dass er durch Geburt dazu gelangt war. Er lehnte den Glauben für sich ab, und wollte auch nicht als „assimiliert“ bezeichnet werden, da er sich als Däne, nicht als Jude verstand. Dennoch wurde er von außen immer wieder als „der Jude Brandes“ beschrieben – meist in abwertender, zuweilen in positiv diskriminierender Manier. Trotz seiner Skepsis bis Ablehnung setzte sich Brandes aber selbstverständlich für Juden ein, die allein aufgrund ihrer Religion Opfer von Gewalt und Vertreibung wurden.

Im Aufsatz über den „Wahrheitshaß“, der dem Band seinen Namen gibt, befasst sich Brandes eingangs mit der Frage, warum eine „schöne und herausragende Frau“ – die Rede ist von Therese Huber – „zu ihrer Zeit so übel gelitten und übel beleumdet war“, und kommt zu dem Ergebnis, dass es wohl an ihrer Liebe zur Wahrheit gelegen haben müsse, die man insbesondere einer Frau nicht zugestehen wolle.

Fazit: Berührendes und Beklemmung hervorrufendes Leseerlebnis

Insgesamt haben mich viele Äußerungen Brandes tief berührt, manche haben mich aufhorchen lassen, andere zum Lachen bewegt, wie etwa die trockene Bemerkung, dass die Preußen, die die Dänen zu Untertanen machen wollen, sich darüber wundern, dass sie „dadurch nicht in begeisterte Bewunderer Preußens verwandelt werden.“[iv] Vieles hat mich allerdings auch mit Beklemmung erfüllt, weil es doch allzu sehr an das gegenwärtige Geschehen in Europa erinnert.

Ich weiß, dass mir gegenwärtig viele Menschen widersprechen werden, dass sie die „geopolitische Wende“ und eine neue „militärische Herausforderung“ anführen werden, die die „Zeitenwende“ erforderlich mache. Doch erscheint mir genau diese Zeitenwende eben als Rolle rückwärts; und dass Kriege aufgrund von geopolitischen Verteilungskämpfen und militärischen Herausforderungen geführt werden, gehört wohl in die Kategorie Milchmädchenweisheiten.

Eine wirkliche Zeitenwende würde aus meiner Sicht damit beginnen, dass Europa 5 % seines Bruttosozialproduktes in friedenschaffende und friedenserhaltende Maßnahmen steckte und dass die schreibenden wie die sendenden Zünfte sich darauf einigten, in ganzer Breite über die Möglichkeit des Friedens zu berichten, statt endlos Kriegsgefahren für Länder wie Deutschland herbeizufabulieren und ausschließlich „Experten und Expertinnen“ einzuladen, die das gegenseitige Sich-Zermalmen für eine ausgezeichnete Voraussetzung halten, um Verhandlungen zu beginnen.

Bibliografische Angaben

Georg Brandes: Der Wahrheitshass. Über Deutschland und Europa 1880 – 1925

Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle, Mathilde Prager und Hanns Grössel

Ausgewählt, kommentiert und mit einem Nachwort von Hanns Grössel

Berenberg Verlag 2007

ISBN 978-3-937834-19-1

Im Programm des Verlages Berenberg habe ich „Der Wahrheitshass“ nicht mehr gefunden, eine kurze Onlinerecherche ergab aber, dass es in zahlreichen Buchhandlungen und über Onlineverkaufsportale noch erhältlich ist.


[i] In: Ein Appell, Mai 1916

[ii] Der Wert des menschlichen Lebens, 1879

[iii] Der Militarismus 1881

[iv] Das Dänentum in Südjütland

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