Der Tod ist kein Anfang des Sterbenden

Vielleicht ist der unfaßbare Augenblick, in dem wir vom Leben zum Tod übergehen, unsere arme Ewigkeit.“

(Arthur Schnitzler: „Sterben“)

Gedanken über das Sterben und die Unterscheidung von Tod und Todeszeitpunkt anlässlich der Bielefelder Tagung zum Thema: Über die Wichtigkeit, tot zu sein –  die Tote-Spender-Regel und die Ethik der Transplantationsmedizin.

Diesen Beitrag habe ich 2013 zum ersten Mal veröffentlicht, ich nehme ihn hier erneut auf, da aktuell wieder über die Widerspruchslösung diskutiert werden soll und sich das Gerücht hartnäckig hält, dass Organe Toten, also Verstorbenen, entnommen würden.

Wann ist der Mensch tot genug?

Nun tagen sie wieder. Und fragen: Wann ist ein Mensch tot? Oder besser: Wann ist er tot genug, damit man ihm die Organe entnehmen darf? Vom Hirntod wird die Rede sein und vom Herztod. Und von einem Todeszeitpunkt, der als Moment der Irreversibilität, der Unumkehrbarkeit, definiert ist.

Denn die eigentliche Frage, das Problem, vor das sich der Mediziner gestellt sieht, lautet ja nicht: Ist der Mensch, dem wir Organe entnehmen wollen, tot? Sondern: Ist es sicher, dass keine Chance besteht, sein Sterben noch einmal umzukehren?

Daran bemisst sich die Bestimmung des Todeszeitpunktes im Zusammenhang mit Organtransplantationen. Umso verblüffender, dass das Sterben selbst in dieser Debatte nicht vorkommt.

Der Tod ist eine Metapher, Sterben ein konkretes Ereignis

Dabei ist doch das Sterben das einzig konkrete Geschehen, das wir erfassen und begreifen können. Der Tod ist eine Metapher, ein Skelett, ein Sensenmann, ein Risiko, etwas, was sich von A nach B schieben lässt, gerade dorthin, wo man es benötigt.

Sah man den Tod ursprünglich erst, nachdem der Sterbende den letzten Atem ausgehaucht hatte, wurde er in Zeiten der Pest vom konkreten Todesfall zu einer Erwartung. Überall versuchte und meinte man ihn zu sehen, bevor er eingetreten war. Überallhin breitete er sich aus, nicht nur in die schwarzen Beulen; er war im Wasser, im Essen, in der Luft, im verdächtigen Treiben der weisen wie der unwissenden Frauen. Wurde von einem konkret sichtbaren Tod am Ende des Sterbens zu einem erwarteten Tod, der sich ankündigte, lange bevor jemand gestorben war.

Die Angst lehrte Menschen, eine Bedrohung zu sehen, selbst dann, wenn sie nicht eintraf. Wie sonst sollte man sich in Zeiten wild um sich greifender Epidemien auch anders davor schützen? Der Tod trat vor das Ende des Sterbens, besetzte dessen Stelle als ein erwartbares Ereignis.

Der Tod ist kein Zeitpunkt, Sterben kein abrupter Stillstand

Die Pest ging, die Annahme, dass man den Tod sehen könne, bevor ein Mensch gestorben ist, blieb. Heute ist der Tod bereits viel weiter ins Leben hineingerückt. Wir begegnen ihm in einem statistischen Risiko oder einer ausgefeilten Diagnostik. Und eben im Begriff der Irreversibilität. Doch der Tod ist „ein Ende des Sterbens “ und nicht ein Moment der Unumkehrbarkeit.

Wer einmal einen Sterbenden begleitet hat, der weiß, wovon ich spreche. Mit dem letzten Ausatmen ist das Sterben noch lange nicht beendet. Der Leichnam fällt nicht von einem Augenblick zum anderen in die Totenstarre.

Ich habe schon einige Tote zu Grabe getragen, doch im Januar dieses Jahres saß ich zum ersten Mal zusammen mit Verwandten am Bett einer Sterbenden. Stunde um Stunde, bis an die Grenzen unserer Erschöpfung. Ich hielt sie im Arm, in genau jenem Moment, da sie sich ein letztes Mal aufbäumte, wehrte; sprach ein paar Worte, die aus mir herausbrachen.

Sie atmete ein letztes Mal aus und wir wussten, dass es vorbei war. Ja, wir wussten es. Aber wir sahen es nicht. Wagten kaum, uns zu rühren. Glaubten, sie würde jeden Moment wieder erwachen. Sahen sie weiter leben. Obwohl wir doch wussten. Oder zu wissen glaubten. Denn es ist unsere Ferne zum Sterben, die es uns erlaubt, zu meinen, dass der Tod unmittelbar mit dem letzten Atemzug einsetzt. Doch der Moment der Irreversibilität, der Unumkehrbarkeit, ist noch nicht der Moment, in dem das Sterben ein Ende nimmt. Sterben ist ein Erleiden, das über den Tod von Herz und Hirn hinausgeht.

Sterben und sterben lassen brauchen Zeit

Und auch für uns, die Hinterbliebenen, war es wichtig, dass wir über den Moment der Unumkehrbarkeit hinaus von der Sterbenden Abschied nehmen konnten. Ohne diese zäh vergehenden Stunden nach dem letzten Ausatmen hätte ich es nicht verkraftet, den geliebten Menschen beim Sterben bis an die imaginäre Grenze zu begleiten. Ohne die Stunden, in denen tröpfelnd Gewissheit einsetzte, in denen wir Anwesende gemeinsam erlebten, wie die Lebenskräfte langsam entwichen, in denen wir letzte Worte suchten, den Leichnam noch einmal berührten, der Toten irgendetwas mit auf den Weg geben wollten. In denen dann nach und nach die ersten Zeichen der Totenstarre einsetzen.

Dann geht alles seinen Gang. Der Totenschein wird ausgestellt. Der Leichnam wird abtransportiert. Und doch: Noch immer spürte ich Angst, es könnte zu früh sein, fürchtete, die Verstorbene könnte auf irgendeine Weise noch etwas davon mitbekommen. Schämte mich, sie in dieser Dunkelheit allein zu lassen. Wünschte mir, ich hätte die Kraft, sie zu waschen, zu kleiden, aufzubahren und drei Tage und Nächte bei ihr auszuharren.

Die Bestimmung des Todeszeitpunktes unterbricht das Sterben

Nein, das Sterben ist keine Metapher, es ist das einzig wirklich konkrete Geschehen an diesem Vorgang, der für die einen das Ende, für die anderen einen Übergang bezeichnet. Schließe ich einen Menschen, der stirbt, an eine Maschine an, dann greife ich in diesen Vorgang ein. Ich verhindere, dass er sein Sterben erleiden kann. Pumpe weiter, damit eben jene untrüglichen Zeichen des Gestorbenseins nicht frühzeitig eintreten können.

Aus medizinischer Sicht ist dies eine Notwendigkeit, die den Sterbenden in ein Objekt verwandelt. Aus meiner Sicht und meiner Erfahrung, aus dem, was ich gesehen, erlebt und verstanden habe, ist es ein Akt, der das Sterben des Subjektes unterbricht. Ich habe keine Ahnung, ob und was dies für einen Sterbenden bedeutet. Ich war noch nie in seiner Situation. Ich bin überzeugt davon, dass die willkürliche Festlegung eines Todeszeitpunktes das Sterben in ein ebenso willkürliches Vorher und Nachher unterteilt und ich wünsche mir, dass wir darüber sprechen.

Wichtige Nachsätze

Wer sich in diesem Moment in einer verzweifelten Situation befindet, für sich selbst oder andere auf eine Organspende hofft, wird mir diese Zeilen vielleicht um die Ohren hauen wollen. Das ist verständlich. Ich bin Mutter. Stelle ich mir vor, mein Kind wäre in einer solchen Situation, nun, ich weiß nicht, was ich täte. Sehr wahrscheinlich würde ich es retten wollen, um jeden Preis.

Und doch bin ich der Meinung, dass wir uns schmerzhaften Wahrheiten nicht verschließen dürfen, auch wenn sie den Ablauf stören, wenn sie uns beunruhigen. Wenn sie ein Zögern in unser Handeln bringen, in unseren dringlichen Wunsch, zu helfen.

Wir leben in einer Zeit, in der es viele solcher Dilemmata auszuhalten gilt. Für mich ist es wichtig, eine Haltung zu gewinnen, auch wenn ich anschließend einen anderen Weg wähle. Ich schreibe also diese Zeilen nicht, um irgendjemandem zu sagen, was er tun soll. Wer wäre ich auch, mir so etwas herauszunehmen. Aus meinen Ausführungen lässt sich kein Handlungsimperativ ableiten. Ich weiß keine Lösung und keinen Rat für ein Dilemma von vielen, die wir selbst geschaffen haben.

Das Einzige, worum ich bitten kann, ist, die Begrifflichkeiten so sauber zu halten wie das chirurgische Besteck. Den Tod nicht zu verwechseln mit einem irreversiblen Moment. Und den Todeszeitpunkt nicht zu definieren, ohne zu bedenken, was mit ihm einhergeht: das Sterben. So gesehen bin ich mittlerweile schon froh, über eine veränderte Fragestellung, die anfänglich das blanke Entsetzen in mir auslöste. Die nicht mehr lautet: Wann ist der Mensch tot? Sondern: Wann ist der Mensch tot genug?

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„Der Tod ist ein End der Lebendigen, ein Anfang der Sterbenden“ diese neue Botschaft überbrachte E. Rosario in seiner „Ars Bene Moriendi. Das ist: Kunst wol zu sterben“. Eine der vielen Schriften der Neuzeit, in denen die Verschiebung der Grenzen zwischen Leben und Tod meiner Ansicht nach deutlich zum Ausdruck kommt. Der Tod wurde sichtbar, b e v o r ein Mensch gestorben war.

In der Publikation „Wie der Tod ins Leben kam“ habe ich mich ausführlicher mit dieser Thematik befasst. Das Buch ist ab 10/2023 als Taschenbuch bei allen bekannten Händlern erhältlich.

2 Gedanken zu „Der Tod ist kein Anfang des Sterbenden

  • 1. Februar 2023 um 21:52 Uhr
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    „Vielleicht sind wir schon tot, und wissen es gar nicht.“Diesen Satz sagte ich einmal zu einem Freund. Wo sind wir eigentlich, wenn wir uns nachts im Traum bewegen und ähnlich reagieren, wie im Leben.
    In meiner Krankenschwesternausbildung sah ich mehrere Menschen sterben, damals meist hinter einer Stoffwand im Umkleideraum des Personals.
    Und doch tat es gut, dass eine Krankenschwester zu mir sagte, als wir gemeinsam die für mich erste Verstorbene fertig machten, Kiefer hochbinden, kämmen und das Bett richten, „ machen Sie es so, als ob es Ihre Mutter wäre.“ und so tat ich es , in einer demütigen und sanften, ja liebevollen Stille. Der Tod im Krankenhaus ließ sich meistens eine Woche Zeit. Wir bekamen den Blick dafür, vor Allem für die Atmung. Ehe ich 1965 im Krankenhaus anfing, dachte ich der Tod läuft ähnlich, wie in einem Krimi ab.
    Nein -Sterben im Krankenhaus oder Zuhause ist zum Glück anders. Milder und heute im Zimmer, ohne weggeschoben zu werden. Übrigens setzt das Gehör als letzte Funktion aus. Das ist wichtig zu wissen, falls noch etwas an letzten Worten mitgeteilt werden möchte. Der Tod durch getötet werden, auch im Krieg ist schrecklich.
    Ich dachte immer, das Schrecklichste, was Eltern passieren kann, ist später als ihre Kinder zu sterben.
    Mittlerweile sehe ich das als großen schweren Schicksalsschlag, doch wie gut ist es für das Kind, die Eltern in den letzten Tagen seines Lebens liebend und begleitend bei sich zu haben. Das können verstorbene Eltern nicht mehr. Als mein Vater starb, war ich dankbar, dass es in meinen Armen geschah, es war für uns Beide der beste Platz. Ich kämpfte auch nicht um ihn, ihn zurück zu rufen, sondern ließ es geschehen, dieses friedvolle Ausatmen. Es war, wie ein Sonnenuntergang und unmittelbar danach die Gewissheit, die Sonne geht ohne Übergang auf der anderen Seite wieder auf.
    Als mein Mann starb, war mit meinen Kindern und mir, als wir ihn liegen sahen, eine unvergleichbare Liebe, wie bei der Geburt eines Kindes im Raum. Seitdem geben wir uns einen Kuss auf den Mund, was wir so immer an besonderen Tagen taten und sagen, jeder Tag ist ein besonderer.
    Abschließend möchte ich noch mitteilen, der Tod ist nicht tot, weil wir ihm unser Leben geben. Damit ist der Tod besiegt, auf einer Ebene, die unser Verstand nicht begreift. Wir kommen aus der Liebe, der ganzheitlichen unpolaren Kraft +~ = Nichts=Nirwana= Himmel, egal, wie unsere Eltern über die Zeugung dachten, sind wir alle Kinder der Liebe und in diese Einheit aus der Schöpferkraft +~ der Mutter und der Schöpferkraft -+ von unserem Vater kehren wir zurück =
    in die LIEBE ❤️.

    • 2. Februar 2023 um 11:28 Uhr
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      Danke für deinen Beitrag, Hanni. Mir ist es wichtig, die Begriffe “Tod” und “Sterben” aus ihrer Umklammerung zu lösen. Bezeichnungen wie “Nahtod”, “Hirntod” oder “Herztod” geben vor, dass man den Tod in verschiedene Phasen einteilen könne. Dem ist aber nicht so, gemeint ist das Sterben. Und solange ein Mensch stirbt, lebt er noch.

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