Berichterstattung im SPIEGEL: die vornehmste Art, sich selbst zu entlarven

2015 wurde der Begriff „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres gekürt. Zu Recht, wie ich finde, denn wenn sich jemand schäbig verhält, muss man ihn nicht zusätzlich durch eine schäbige Wortwahl diffamieren, es reicht, wenn man die (vermeintlichen) Untaten aufdeckt. Auch der SPIEGEL berichtete damals über die Wahl sowie über Rügen, die die Darmstädter Jury Begriffen wie „erweiterte Verhörmethoden“ und „Russlandversteher“ erteilte.

Dumm nur, wenn dieselben Medien, die sich gegen Diffamierung wehren, ihre eigenen Prinzipien zerlegen, als gäbe es kein Morgen mehr, in dem Leser, die sich einen Rest Anstand bewahrt haben, fragen, wie „das“ geschehen konnte.

Denn dass der SPIEGEL selbst längst vom Weg abgekommen ist, stellte er einmal mehr mit folgender Schlagzeile unter Beweis:

Die Überschrift ist das Aushängeschild eines Artikels, gibt die darin enthaltenen Informationen verknappt wieder und soll Neugier wecken.

Die wichtigste Information, die der SPIEGEL hier in der Schlagzeile vermittelt, lautet nicht, dass eine Hausdurchsuchung bei Ralph Thomas Niemeyer stattfand, einem ehemaligen Linken, der zu den Reichsbürgern abgedriftet ist. Die Person, um die es eigentlich ging, wird namentlich nicht einmal erwähnt. Die wichtigere Information lautet, dass es sich dabei um den Ex-Ehemann von Sahra Wagenknecht handelt.

Nun könnte man meinen, so funktioniere halt Journalismus und das sei der verständliche Versuch, die gewünschte Aufmerksamkeit für den Inhalt des Artikels zu generieren. Sahra Wagenknecht ist der Öffentlichkeit schließlich um ein Vielfaches bekannter als ihr Ex Niemeyer, von dem sie sich 2011 trennte.

Doch belassen die SPIEGEL-Reporter es nicht dabei, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erheischen, sondern wiederholen diese „Information“ im Teaser sowie in den ersten beiden Absätzen des Artikels, damit sie sich auch dem Letzten einprägt, obwohl sie zum Verständnis des eigentlichen Sachverhaltes nichts beiträgt.

Wer, wie, warum: der SPIEGEL eiert rum

Zum Basiswissen Journalismus zählt die Kenntnis der Pyramiden-Regel, die besagt, dass Antworten auf die wichtigsten W-Fragen zu Beginn eines Artikels stehen. Folgt man dem Aufbau des SPIEGEL-Artikels lauten die wichtigsten W-Frage hier also nicht, wer was warum und wie getan hat, sondern erneut: Wer ist die geschiedene Ehefrau des Reichsbürgers?

Wendet man die W-Fragen allerdings auf den Artikel selbst an, könnte die Antwort auch so ausfallen: Der SPIEGEL versucht, Sahra Wagenknecht zu diskreditieren, indem er sie mehrfach im Zusammenhang mit einem Reichsbürger nennt, von dem sie seit über einem Jahrzehnt aus gewiss guten Gründen getrennt ist.

Ist es noch derselbe SPIEGEL, der in seinem Bericht über die Wahl zum Unwort des Jahres 2015 stolz darauf verwies, dass die Jury dem Begriff „Russland-Versteher“ ebenfalls eine Rüge erteilt habe und sich dabei auf einen 2014 im SPIEGEL erschienenen Gastbeitrag von Erhard Eppler berief?

Wohl kaum. Denn während Eppler in seinem Essay „Wir reaktionären Russlandversteher“ noch dafür plädieren durfte, „dass die Bemühung, fremde Gesellschaften und Kulturen zu verstehen, Grundlage jeder Außenpolitik sein muss, wobei dies keinesfalls bedeutet, auch Verständnis für daraus resultierende Handlungen zu haben“, hat sich der SPIEGEL 2023 auf eine Berichterstattung eingeschworen, die es vor allem den „Russlandverstehern“, „Putinverstehern“ und somit natürlich auch einer Sahra Wagenknecht mal so richtig heimzahlen möchte.

Doch einmal mehr gilt: Eine Lüge ist das nicht. Nur eine beschämende Selbstentlarvung. Auch wenn andere Medien, wie beispielsweise das „Online-Content-Netzwerk“ FUNK, das von ARD und ZDF betrieben wird, dem an Peinlichkeit in nichts nachstehen.

2 Gedanken zu „Berichterstattung im SPIEGEL: die vornehmste Art, sich selbst zu entlarven

  • 30. März 2023 um 14:18 Uhr
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    Heinrich Böll wies damals, in den
    70 ern auf die Diskriminierung durch die Boulevardzeitungen hin.
    In seiner Erzählung , Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘
    hielt er überwiegend der Springerpresse, in erster Linie vermutlich damals der Bildzeitung einen Spiegel vor.
    Heute hält der Spiegel ein ähnliches scheinbar unbeabsichtigtes Bild vor, wie ein Mensch, der mit Sicherheit, nichts mit der politischen Haltung des Exmannes zu tun hat, im Zusammenhang mit ihm in die Schlagzeile gerät.

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    • 30. März 2023 um 16:12 Uhr
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      Ja, eines der großartigen Bücher von Böll (mein Favorit ist “Ansichten eines Clowns”). Leider gibt es kaum noch Schriftsteller, die solche Entwicklungen aufgreifen.

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